Weihnachten als Protest-Ereignis, Weihnachtsproteste oder Proteste an Weihnachten ?
Es sind für die 1950er und frühen 1960er Jahre keine politisch motivierten Proteste gegen Weihnachten an sich bekannt, außer vielleicht die Versuche der DDR-Führung das christliche Fest sozialistisch umzudeuten: Stichwort Jahresendbaum.
In der Protest-Chronik (1949 – 1959) von Wolfgang Kraushaar findet sich kein Stichwort „Weihnachten“, also nehmen wir an, dass es auch keine Aktion oder Demonstration mit diesem Bezug in der noch jungen Bundesrepublik gegeben hat. Weihnachten galt allenthalben als die Zeit des Friedens und der Besinnung.

[Loriots Weihnachten bei Hoppenstedts, allerdings auch erst von 1978  zählt nicht als anerkannte Protestform, obwohl es mit seinem subversiven Humor die deutschen Verhältnisse am Heiligen Abend doch sehr tiefgründig kritisiert.
– „Und jetzt sei ein BISSCHEN gemütlich!“]

"Oh du fröhliche..." Konsumterrorzeit!

Das ändert sich erst Weihnachten 1964: Mitglieder der Gruppe Subversive Aktion um Dieter Kunzelmann (1934 – 2018) und Frank Bökelmann (1941 – ) verteilten in Münchner Kaufhäusern am 18.12.1964 ihr Flugblatt Weihnachtsevangelium.
Theoretische Grundlage ihrer Kapitalismus-Kritik waren die Vordenker der Frankfurter Schule, insbesondere Adorno und Marcuse. Nachzulesen in ihrer Zeitschrift Anschlag. [1]

Mit Dieter Kunzelmann kamen diese subversiven Ideen 1966 nach West-Berlin und schlugen sich in dem bekannten Flugblatt der Kommune I nieder mit dem Slogan „Burn warehouse, burn!“, der sich auf einen verheerenden Kaufhausbrand in Belgien bezog und nicht auf die Kaufhaus-Brandstiftung im April 1968 in Frankfurt. [2]

Das Weihnachtsevangelium wurde in West-Berlin, wo auch Bernd Rabehl und Rudi Dutschke zur Subversiven Aktion gehörten, neu aufgelegt und verteilt.

Flugblatt: Weihnachtsevengelium / HIS-Archiv
Flugblatt: Weihnachtsevengelium / HIS-Archiv

Ob das Flugblatt auch beim Weihnachtsgottesdienst am 24.12.1967 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verteilt wurde, als APO-Aktivist*innen auf die Situation in Vietnam aufmerksam machen wollten, ist nicht bekannt. Einige der Gottesdienstbesucher*innen, waren offensichtlich nicht wirklich vom christlichen Weihnachtsfrieden beseelt, sondern griffen die APO-„Protestant*innen“ tätlich an. Rudi Dutschke zum Beispiel wurde festgehalten und durch einen Schlag mit einer Krücke von dem Ex-Wehrmachtssoldaten und bekennenden Alt-Nazi Friedrich Wilhelm Wachau am Kopf verletzt.

"Ho - Ho - Ho-chi-minh"

Flugblatt: Erzengel Gabriel, Hamburg, vermutlich 6.12.1968 / HIS-Archiv
Flugblatt: Erzengel Gabriel, Hamburg, vermutlich 6.12.1968 / HIS-Archiv

Von Berlin aus verbreitete sich  das Virus der Subversion wohl in den nächsten Jahren bis nach Hamburg, jedenfalls wurde in der Hansestadt ein Flugblatt der Internationalen Gesellschaft für subversive Nächstenliebe auf einer Demonstration gegen Staatsterror im Iran am 6. Dezember 1968 verteilt.

Die Autor*innen warfen der APO Hamburg vor, dass sie zwar gegen die Verhältnisse im Iran protestiere, aber nichts gegen die Probleme im eigenen Land  unternähme: „Protestzüge gegen Terrorurteile sind respektabel, lieb und nett. Aber während die APO über den offensichtlichen Terror von Polizei und Justiz und Staat in exotischen Dikaturen lamentiert, übertönt das Weihnachtsgebimmel des Konsumpropagandisten den Terror im eigenenen Land. Zu dem Choral „Christ der Retter ist da“ patrouillieren Hamburger Polizisten mit Maschinenpistolen vor den Konsulaten“ […] „lasst euch nicht zur Heilsarmee degradieren. Zerschlagt den christlichen Verkaufsterror, der euren romantischen Protest erstickt“. Sie fordern: „Räumt die Kaufhäuser aus, beschenkt Euch selbst und Eure Lieben. Holt Euch die Weihnachtsgratifikation an der Ladenkasse ab.

[Ob der presserechtlich verantwortliche Erzengel Gabriel tatsächlich in der Hamburger Michaeliskirche wohnhaft war, ist zweifelhaft.]

"Lieber guter Weihnachtsmann..." von der Schwarz -Roten Garde

Mit einem offensichtlich gefälschten Flugblatt versuchten in Hamburg auch die Weihnachtsmenschen von der „Schwarz-Roten Garde“ (eine Gruppe, die es so nie gegeben hat), den Eindruck zu erwecken, die Hamburger Kaufhäuser Karstadt, Horten, Kepa und Kaufhof würden am 21. Dezember 1968 zu einem „Selbstbedienungsbummel“ einladen:

Flugblatt: Weihnachten - Das Fest der Liebe - zum 21.12.1968 / HIS-Archiv
Flugblatt: Weihnachten - Das Fest der Liebe - zum 21.12.1968 / HIS-Archiv

Ob dies ein Scherz sein sollte oder der Versuch, Bürger*innen in ihre geplante Aktion einzubinden, ist unklar.

Flugblatt: HUSSA! Schwarz-Rote Garde, Hamburg, zum 21.12.1968 HIS-Archiv
Flugblatt: HUSSA!
Schwarz-Rote Garde, Hamburg, zum 21.12.1968
HIS-Archiv
Abschrift des "HUSSA!"-Flugblatts

Ein beteiligter APO-Aktivist schätzt die Zahl der Teilnehmenden auf 150 – 200 und sagt zu der ganzen Aktion:

„Wenn auf dem dritten Foto so viele Menschen zu sehen sind, handelt es sich um Kunden und auch nur neugierige Studierende usw., die sich für die Aktion interessierten, aber nichts machten. Ich denke, dass die im weitesten Sinne  Beteiligten in 2 Gruppen zerfielen: die Militanten, die was machten und viele, die ebenfalls den Konsumrummel um Weihnachten kritisierten und darüber mit Passanten und Kunden diskutierten. Deshalb kannst Du nicht von, was wolltet „Ihr“ erreichen, sprechen. Die einen wollten aufklären und sehen was da los ist, die anderen wollten mit militanten Aktionen (zerstören, mitnehmen usw.) und damit wohl ein Zeichen setzen. Das war kaum erfolgreich, eher kontraproduktiv.
Es wurde wenig Aufmerksamkeit erreicht, im Abendblatt erschien ein sehr kleiner Bericht [3]. Die Zerstörungen kamen bei den Kunden sicher nicht gut an. Sie wurden aber auch im Abendblatt nur einer kleinen Minderheit Jugendlicher zugerechnet und nicht der 68er Bewegung.“

Und die Beschäftigten waren offensichtlich auch nicht begeistert, wie an den Fotos (weiter unten) zu sehen ist. Fast wäre es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Fleischerei-Fachangestellten gekommen.

Der Fotograf Günter Zint hat die Ereignisse vom 21.12.1968 dokumentiert [4]
Eine Rekonstruktion:

Schlecht getarnte Polizist*innen erwarteten die ebenfalls schlecht getarnten Demonstrant*innen vor dem Kaufhof an der Mönckebergstraße:

Trotz Polizei-Präsenz gelangten sie in das Kaufhaus und einige Waren und Dekoration gingen zu Bruch:

Die Polizei schritt ein, nun, um Angriffe von „Jubel-Schlachtern“ auf die Protestierenden zu verhindern:

In der Non-Food-Abteilung spielten sich dramatische Szenen ab:

Flucht durch das Parkhaus und Festnahmen:

Nonverbale Kommunikation am Rande der Proteste:

Alle Fotos: Günter Zint

Alle Jahre wieder?" - Ein Fazit der Aktion

Das Hamburger Abendblatt meldete am Montag, 23.12.1968 auf Seite 6 unter der Überschrift Jugendliche randalierten: „Die Polizei mußte am Wochenende 25 jugendliche Demonstranten vorläufig festnehmen. Sie hatten zusammen mit anderen Jugendlichen in Kaufhäusern der Innenstadt randaliert und rund um die Mönckebergstraße mehrere Autos beschädigt.“

Einer von ihnen, Günther Schmiedel (1941 – 1999), wurde (nach Weihnachten!) in U-Haft genommen. Im Prozess wurde ihm u.a. „Rädelsführerschaft“ bei den oben genannten Demonstrationen vorgeworfen. Er wurde zu 1 Jahr und 9 Monaten ohne Bewährung verurteilt. 1970 wurde das Urteil durch das „Straffreiheitsgesetz“ aufgehoben. [5]
Die Hamburger Handelskammer war alarmiert und befürchtete weitere Aktionen in Kaufhäusern. Sie verfasste im Februar 1969 ein umfangreiches Papier, das die „Lage“ analysierte und in Absprache mit der Polizei Maßnahmen vorschlug. Unter anderem einen „Ordnerdienst, der in einzelne Reviere gegliedert ist“, Foto- und Film-Überwachung und die Anweisung an das Personal „nicht mit den Studenten zu diskutieren, denn das könne auch zu Aufläufen führen.“ Dieses Papier wurde vom Hamburger SDS in der Broschüre „Justiz ohne Maske“ veröffentlicht und könnte ja durchaus als Erfolg für die Aktion gesehen werden, aber in den folgenden Jahren gab es keine weiteren vergleichbaren Aktionen zu Weihnachten.
Die Konsument*innen ließen sich nicht zu antikapitalistischen Aktionen hinreißen; sie wollten einfach nur in Ruhe konsumieren.

… und heute ?
Bei meinen ersten Recherchen gab ich „Protest und Weihnachten“ bei Google ein und es erschienen statt konsum- und kapitalismuskritischer Beiträge als erstes die Seiten von Quer“denken“ und deren Demo-Termine. – Na dann: Prost Neujahr!
Und zur Aufmunterung nochmal Loriot´s Weihnachten bei Hoppenstedts anschauen. Denn früher war mehr Lametta!

DS, 12.12.21