von Christoph Fuchs

Am 20. Oktober 1965 morgens um 4 Uhr 30 wird im Vergnügungsviertel einer westdeutschen Großstadt vor einem Twistschuppen die 16jährige Margarete M. aufgefunden. Sie lebt. Sie hat einen Pervitinrausch und ist volltrunken. Unter einem Pelzmantel trägt sie lediglich Unterwäsche. Margarete M. ist ein Heimkind auf der Flucht. Die Journalistin Ulrike Marie Meinhof rekonstruiert diesen Fall für die Zeitschrift Konkret. Die Reportage spart nicht mit anklagenden Zwischentönen, zurückhaltend zwar für unsere heutigen Lesegewohnheiten, doch ist es die Subtilität der Formulierungen, die sich im Gedächtnis festsetzt. Nicht nur der harte Verzicht auf die eigene intakte Familie, sondern auch der häufige Heimwechsel, die personelle Unterbesetzung der Einrichtungen und deren zum Teil miserabler Bauzustand, dürfe – so Meinhof – allerdings nicht denen angelastet werden, die in den Heimen arbeiten, vielmehr sei das pädagogische Versagen nicht die Ursache sondern die Folge der in dem Artikel geschilderten Umstände. „Diese aber sind einer Gesellschaft anzulasten, die sich weigert, moralisch und fiskalisch die Mittel aufzubringen, die nötig wären, auch einer Minderheit eine Chance zu geben.“ Die Autorin schließt mit der Frage: „Liegt es daran, daß diese Minderheit ökonomisch und kommerziell uninteressant ist?“ [1]

Peter Zöllinger (Soziologiestudent/SDS Frankfurt/Lederjackenfraktion)  während der Staffelberg-Kampagne im Sommer 1969 mit Jugendlichen  Foto: © A. von Meysenburg/ HIS-Archiv
Peter Zöllinger (Soziologiestudent/SDS Frankfurt/Lederjackenfraktion)
während der Staffelberg-Kampagne im Sommer 1969 mit Jugendlichen
Foto: © A. von Meysenburg/ HIS-Archiv

Die Soziologie entdeckt die Randgruppe

Die offensichtlichen Verwerfungen der Gesellschaft, das Infragestellen autoritärer Institutionen nicht zuletzt der Elterngeneration, die den Krieg durch ein wirtschaftliches Wunder endlich loswerden will, durch eine Jugend, die nicht bereit ist, sich an diesem Werteangebot zu orientieren, wird in den 1960er Jahren Thema nicht nur in Publizistik und Medien. Für die deutsche wie auch für die angelsächsische Soziologie wird es attraktiv, über die Sozialstruktur als dynamischen Prozess zwischen „Kerngesellschaft“ und „Randgruppenphänomenen“ nachzudenken. Wie entsteht die Störung in der Integration des Individuums in einem vorgegebenen sozialen und normativen Zusammenhang? Das versuchte u.a. der Soziologe Friedrich Fürstenberg 1965 zu analysieren, um die Ursachen der sogenannten „Asozialität“ und „Antisozialität“ zu ergründen. Von der Norm abweichendes Verhalten würde bestraft und habe soziale Isolierung zur Folge. Der Ausschluss von der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen könne aber zur „Festigung des Zusammenhalts der Mitglieder einer sich herausbildenden Subkultur“ [2] führen.

Fürstenberg war einer der beiden Herausgeber der deutschen Ausgabe von Herbert Marcuses Studien zur fortgeschrittenen Industriegesellschaft: One-dimensional man von 1964. Alfred Schmidt übersetzte das Buch drei Jahre später für den Luchterhand Verlag ins Deutsche. Hatte Fürstenberg seine Sozialstrukturanalyse noch sehr auf einem Apriori gesellschaftlicher Normen aufgebaut, so kritisierte Marcuse die Flucht der westlichen Industriegesellschaft in das eindimensionale positivistische Denken, das zu Verhältnissen führe, die „die qualitative Differenz widerstreitender Interessen als quantitative Differenzen innerhalb der etablierten Gesellschaft erscheinen lassen.“ [3] In der modernen Industriegesellschaft gebe es kein dringendes Bedürfnis, den „Widerspruch zwischen der wachsenden Produktivität und ihrer repressiven Anwendung“ aufzulösen. Marcuses Schlussfolgerung ist entsprechend radikal. „Unter der konservativen Volksbasis“, befinde sich das „Substrat der Geächteten und Außenseiter“, deren Leben am „unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen“ [3] bedürfe.

Sind also Heimkinder als revolutionäre Opposition denkbar?

Hinter den Kulissen des städtischen Glücks

In der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1969 entlädt sich die Unzufriedenheit der Jugendlichen über die unerträglichen Verhältnisse und brutalen Behandlungsmethoden im Landesfürsorgeheim im schleswig-holsteinischen Glückstadt. Die geschlossene Anstalt für „Schwersterziehbare“ wurde im 19. Jahrhundert in einem alten Marinegebäude eingerichtet, um an sogenannten „Asozialen“, wie „Landstreichern und Dirnen“, eine „Korrektionshaft“ zu vollstrecken. Nach weiteren Jahren als Landesarbeitsanstalt machten schließlich die Nationalsozialisten daraus ein Arbeits- und Konzentrationslager für politische Gegner. Nach 1949 bleibt das Landesfürsorgeheim in Glückstadt ein Beispiel „für die aus der Arbeitshaustradition heraus entwickelte und erprobte Funktion der Abschreckung durch äußere Bedingungen eines Anstaltsgebäudes und innere Zustände eines repressiven Bewahrungs- und Strafregimes“. [4]

Staffelberg-Dokumentation, Broschürensammlung SBe_613_G2_8

Der im September 1969 in das Heim eingelieferte Frank Leesemann erinnert sich, wie er von den Erziehern, sprich: Wärtern, geschlagen, bespuckt und getreten wird. Leesemann ist damals 15 Jahre alt. Er hatte in Kiel ein Mofa geklaut, wurde verhaftet und nach Glückstadt überstellt. „Als Grund für seine Einlieferung heißt es in seiner Akte: Asozial, kriminell, kann sich der Gesellschaft nicht anpassen.“ [5] Leesemann wird in die berüchtigte „Box“, den sogenannten „Beruhigungsgitterkäfig“ gesteckt, ein Verschlag im Keller mit kärglicher Einrichtung. Die Bettwäsche stammt aus der NS-Zeit, das Hakenkreuz ist noch zu sehen.

Isolationshaft, körperliche Quälerei, seelische Brechung, auch sexuelle Gewalt führt bei einigen Jugendlichen zur versuchten oder vollendeten Selbsttötung. Dass der Aufstand im Glückstädter Heim Augenzeugenberichten zufolge mit Unterstützung von Marinesoldaten niedergeschlagen wurde, zitiert einmal mehr den Treppenwitz der Geschichte. Unter den rebellierenden Jugendlichen befindet sich auch der spätere RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock. Er wird in das Jugendheim Beiserhaus in Rengshausen überstellt, von wo er mit Hilfe von Baader, Ensslin und Proll entkommen kann.


Staffelberg oder wie die APO die Heimkinder entdeckt

Am 28. Juni 1969 fahren APO-Aktivisten, darunter – wie Wolfgang Kraushaar in seiner Chronik vermerkt – zahlreiche Frankfurter SDS-Mitglieder und die auf freiem Fuß befindlichen Kaufhausbrandstifter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Thorwald Proll in die Nähe der hessischen Kleinstadt Biedenkopf und „geben dort in einem Erziehungsheim den Startschuss für die Befreiung von Fürsorgezöglingen, die sogenannte „Staffelberg-Kampagne“. [6]

Etwa zwei Wochen später erscheint in der Zeitschrift Konkret ein Bericht der Kampfgruppe ehemaliger „Fürsorgezöglinge“. Die Zustände in den Erziehungsheimen, in denen das Wohlverhalten der „Gestrauchelten“ durch offenen Terror erzwungen werde, seien das Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse, gegen die es zu kämpfen gelte. [7]

Aus dem abgedruckten Flugblatt der Kampfgruppe ist ersichtlich, wie die Staffelberg-Aktion gegen den gesamten Erziehungsterror vorzugehen gedachte. Gefordert wurde ein geheim gewählter und unabhängiger Heimrat, das sofortige Ende der Karzer-Bestrafung, die Entlassung aller gewalttätigen Erzieher und einiges mehr.

Gudrun Ensslin, eine der AnführerInnen, äußert sich in der diakonischen Zeitschrift Weltweite Hilfe über die Zustände in den Heimen, sie spricht von „faschistoiden Anpassungslagern des Spätkapitalismus“ [8] und berichtet ausführlich über die Aktion „Staffelberg“, in der ungefähr siebzig „Fürsorgezöglinge“ befreit, bei APO-Angehörigen und Sympathisanten untergebracht und mit Spenden versorgt worden sind.

© Konkret Vertriebsgesellschaft
Flugblatt Konkret 1969 H.15

Wie der ehemalige Spiegel-Redakteur Peter Wensierski schreibt, plante Gudrun Ensslin, „ein Buch über die Lage und Kämpfe der Heimkinder zu schreiben, und begann, Material dafür zu sammeln: Flugblätter, Briefe aus den Heimen, Tonbandinterviews, Mitschnitte von den Diskussionen, Akten von Fürsorgezöglingen.“ [9]

Es bleibt allerdings Ulrike Marie Meinhof, die mit ihren Artikeln und Radiobeiträgen kontinuierlich und öffentlichkeitswirksam auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in westdeutschen Fürsorgeheimen aufmerksam macht. Heimerziehung, so schreibt Meinhof, „das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, daß es keinen Zweck hat, sich zu wehren, keinen Zweck, etwas anderes zu wollen, als lebenslänglich am Fließband zu stehen, an untergeordneter Stelle zu arbeiten, Befehlsempfänger zu sein und zu bleiben, das Maul zu halten.“ [10]

Aus ihren Recherchen in dem geschlossenen Mädchenheim Eichenhof in Westberlin verfasst Meinhof das Drehbuch zu Bambule, dem einzigen Versuch der Journalistin, die katastrophalen Verhältnisse filmisch umzusetzen. Sie lernt dort Irene Goergens kennen, die sie mit einer Bürgschaft aus dem Heim herausholen kann. Irene Goergens wird sich an der Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 beteiligen und der Baader-Meinhof-Gruppe anschließen. Aufgrund der Fahndung nach Ulrike Meinhof wird der Sendetermin am 24. Mai ausgesetzt und das kritische Plädoyer gegen das autoritäre Heimregime verschwindet für 24 Jahre im „Giftschrank“ des Südwestfunks.

Warum mir Staffelberg eingefallen ist

In meiner Recherche zur Produktion des Films Prison sans barreaux (dt. Gefängnis ohne Gitterstäbe, Léonide Moguy, 1937) stoße ich auf die Revolte von 55 Kindern und Jugendlichen, die im August 1934 vor den unwürdigen und unerträglichen Bedingungen in der Jugendstrafanstalt auf der bretonischen Insel Belle-Île-en-Mer geflüchtet sind. Sowohl die Bewohner der Insel als auch die anwesenden Touristen wurden gegen eine Prämie von 20 Francs aufgefordert, die Jungen einzufangen, denn ohne deren Hilfe hätten sie die Insel nicht verlassen können. Die Presse griff das Thema auf, schließlich war die Meuterei von Belle-Île-en-Mer nur die Spitze des Eisberges. Die Missstände in den Jugendstrafanstalten, den Bagnes, und sogenannten Besserungsheimen, den Maisons Correctionnelles, die brutalen Misshandlungen, sexuellen Nötigungen, auch Todesfälle, sollten allmählich ans Licht der Öffentlichkeit dringen. Alexis Danan, ein Journalist der angesehenen Tageszeitung Paris-Soir begann im September 1934 über diese Zustände zu berichten. Wie viele Intellektuelle ist auch der Regisseur Léonide Moguy empört über diese Enthüllungen und fordert von der 1936 gewählten sozialistischen Volksfrontregierung durchgreifende Reformen. Mit Erfolg.

Christoph Fuchs ist stellvertr. Bibliotheksleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung sowie Literatur- und Filmwissenschaftler.
Die angesprochene Recherche entstammt dem aktuellen Buchprojekt „Am Vorabend. Filmproduktion im Pariser Exil. Eine Generationengeschichte“, das im Verlag von SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien in Wien erscheinen wird.

Quellen:

[1] Ulrike Marie Meinhof: Flucht aus dem Mädchenheim. In: Konkret. September 1966, S. 18-23.

[2] Friedrich Fürstenberg: Randgruppen in der modernen Gesellschaft. In: Soziale Welt. 16(1965), S. 236-245.

[3] Herbert Marcuse: Schriften. Bd. 7: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Frankfurt a.M. 1969, S. 41 und S. 266f.

[4] Kurztext des Karl Wachholtz Verlages zu: Christian Schrapper, Irene Johns (Hg.) : Landesfürsorgeheim Glückstadt 1949 – 74 : Bewohner – Geschichte – Konzeption. Neumünster 2010. (Dieser Publikation liegt eine DVD mit Interviews der Betroffenen bei.)

[5] Barbara Dickmann, Sybille Bassler (Hg.): Gestohlene Kindheit. Wie Fürsorgeheime Kinder zerstört haben. München 2018, S. 10.

[6] Wolfgang Kraushaar: Die 68er Bewegung. International. Eine illustrierte Chronik. Bd. 4. Stuttgart 2018, S. 254f.

[7] Kampfgruppe ehemaliger „Fürsorgezöglinge“: Die Staffelberg-Revolte. In: Konkret, 14. Juli 1969, S. 43-45.

[8] Gudrun Ensslin, Herbert Faller: Fürsorgeerziehung – Ja? Nein? In: Weltweite Hilfe. Zeitschrift des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau. 19(1969),8, S. 25-28. (Das Heft ist enthalten in der Archivbox „SBe 613 Randgruppenbewegung – Staffelberg-Aktion“)

[9] Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herren. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in Bundesrepublik Deutschland. München 2006, S. 166. (Die Kopie des Kapitels „Lehrlinge und Brandstifter“ S. 154-182 ist enthalten in der Archivbox „SBe 613 Randgruppenbewegung – Staffelberg-Aktion“).

[10] Ulrike Marie Meinhof: Bambule. Fürsorge, Sorge für wen? Berlin 1972, S. 6.