von Alexander Hobe
Es gibt entweder zu viel oder zu wenig – wer sich in
geschichtswissenschaftlicher Absicht durch Archive wühlt, kennt das Problem. Paradoxerweise koexistieren diese beiden Zustände nicht selten. Diese Spannung könnte man bestimmt als analytisch reizvoll beschreiben, die Gereiztheit des Historikers vermindert sie in keinem Fall.
Diesen Historiker (den Autor, mich) betrifft das Problem in gesteigerter Form. Ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Europäischen Integration verlangt nach einer transnationalen Anlage, aber der grenzüberschreitende Ehrgeiz stößt in unterschiedlichen Archivlagen auf neue Grenzen, zwar nicht mehr zwischen Staaten, aber doch in der Arbeitspraxis.
Für Integrationsgeschichtsschreibung mit diplomatie-geschichtlicher Anlage besteht das Problem nicht in dieser Form. Wer Verhandlungen zwischen Regierungen nachvollziehen und erklären will, findet in staatlichen Archiven schnell die passenden Bestände, die vielfach sogar ediert vorliegen. Zwar waren auch die Regierungsapparate keine spiegelbildlichen Maschinen, doch erforderten diplomatische Gepflogenheiten ein Gegenüber und Archivgesetze eine Überlieferung.
Nähert man sich der Integrationsgeschichte aber aus nicht-staatlicher Perspektive, ergibt sich ein anderes Bild. So mag ein Privatnachlass in einem deutschen Archiv reiche Erkenntnisse über dessen Interaktionen mit einem französischen Gegenüber bergen, während der Nachlass dieses Gegenübers: fehlt. Das hat weitreichende Folgen: Der Historiker wird in eine Perspektive gedrängt, der er nicht einfach durch die kontrastierende Gegenseitenperspektive entkommen kann.
Wie kann man damit umgehen? Der folgende Text enthält keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage, die sich ohnehin an den Besonderheiten eines jeden Falls wird ausrichten müssen. Stattdessen werde ich anekdotisch von Fallstricken in meiner eigenen Archivrecherche berichten und von den Behelfsbrücken, die mich mehr schlecht als recht über sie hinweg führen sollen. Es handelt sich um eine Frustrationserzählung direkt aus dem Irrgarten des Forschens.
In der Abbildung zu diesem Beitrag ist eine Adresse in Paris zu sehen. Dabei handelt es sich um den Sitz der „Union nationale des combattants“ (UNC), eines nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Veteranenverbands. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete die UNC gemeinsam mit westdeutschen, italienischen, belgischen und luxemburgischen Verbänden eine europäische Dachvereinigung. Der vorläufige Sitz war Paris, ebenjene abgebildete Adresse:
Ich kann diese Informationen deshalb so genau nachvollziehen, weil sie in deutschen Archiven vorliegen. Die Adresse steht im Kopf mehrerer Briefe, die im Militärarchiv in Freiburg liegen, im Nachlass des Vorsitzenden eines der maßgeblich an der Dachverbandsgründung beteiligten Verbände. Da dieser Vorsitzende die Bonner Zentrale von seinem Wohnsitz in Kiel aus leitete, entstand ein reicher Schriftverkehr, voller intensiver, interner Auseinandersetzungen über das Für und Wider der Dachverbandsgründung. Wenn ich in diese Goldgrube eintauche, dann ist mein einziges Problem ihr enormer Umfang, der zur Raffgier verleitet; bei begrenzter Zeit im Archivlesesaal ist die größte Aufgabe also die Suche nach Prioritäten, zumal man auch zukünftige Leser nicht unter Bergen von Empirie begraben möchte. Eine übervolle Goldgrube aber ist ein echtes Luxusproblem.
Das Zu Viel der deutschen Quellen unterstreicht scharf das Zu Wenig der französischen. Mit Hohngelächter starrt mich die obige vorläufige Adresse des Dachverbandes an: Auch heute noch sitzt an dieser Adresse die UNC, doch, obwohl auch in der jüngeren Vergangenheit Forschung auf Basis des Privatarchivs geschah,[1] mir gewährte sie keinen Zutritt.
Dabei ist das französische Verbandshandeln wesentlich erklärungsbedürftiger als das westdeutsche. Warum westdeutsche Wehrmachtsveteranen zur Zeit der Wiederbewaffnung in einem demilitarisierten Land nach ausländischer Anerkennung strebten, kann man sich gut vorstellen. Es ist aber überhaupt nicht offensichtlich, warum sich die Franzosen darauf einließen.
Während ich also für die westdeutschen Verhandlungspartner über einen reichen Fundus an Material verfüge, das, zum Beispiel, belegt, welche Herzensangelegenheit den Veteranen der Einsatz für die deutschen Kriegsverbrecher war, kann ich die Reaktionen der Franzosen auf diese Initiativen nicht im selben Maße nachverfolgen. Viel wichtiger noch: Ich verfüge über keine vergleichbare interne Korrespondenz, in der sich Auskünfte darüber fänden, was die Franzosen in ihren Herzen trugen.
Stattdessen gehe ich über Behelfsbrücken: Die UNC-Verbandszeitschrift ist öffentlich zugänglich und ein weiteres, kleineres französisches Mitglied des Dachverbands gewährte mir Zugang zu seinem Archiv, über das ich wiederum Verhandlungen auf der französischen Seite, zwischen Verbänden, annähernd nachvollziehen kann.
Aber, obgleich diese Bestände in die richtige Richtung deuten, über die große Lücke in meinem Quellenbestand können sie nicht hinwegtäuschen. Das Fehlen interner UNC-Verhandlungen erzeugt ein großes Ungleichgewicht, dem nicht einfach beizukommen ist.
Darüber hinaus besteht eine weitere Leerstelle: Bisher an keinem anderen Ort auffindbar, vermutet man eine Sammlung des Schriftguts des Dachverbands selbst am ehesten im Archiv seines wichtigsten Mitglieds, der UNC, umso mehr, als sich der Dachverband schon 1962 aufgelöst hat.
Erneut ist die Behelfsbrücke hier überaus prekär. Der Nachlass des Gründungsvorsitzenden des Dachverbands liegt im französischen Militärarchiv, befasst sich aber nur mit dessen Militärkarriere. Er ist also mehr oder weniger nutzlos, da er den Dachverband im Ruhestand gründete. Da der Vorsitzende aber auch Mitglied der Union Europäischer Föderalisten in Frankreich war, lassen sich manche Erkenntnisse über diesen Akteur über die Sammlung zur Föderalistischen Bewegung im Florentiner EU-Archiv gewinnen.
Auch dieser Weg ist nicht perfekt, die gewonnen Einsichten bruchstückhaft. Wenig Trost liegt in dem Verweis darauf, dass jegliche Arbeit mit Archivalien bis zu einem gewissen Grad ein solches Puzzlespiel bedeutet. Es bleibt insbesondere für die transnationale Forschung problematisch, wenn ein Quellenungleichgewicht eine einzelne Perspektive betont, zumal es ohnehin unumgängliche Voreingenommenheiten des Autors weiter vervielfachen kann, die sich aus Sehepunkt, Vorwissen und Sprachkenntnissen ergeben.
Es mag zwar stimmen, dass auch im nicht-Finden ein Erkenntnispotential liegt, nur ist die Erkenntnis „hier gibt es nichts zu holen“ eben nicht für jede Forschungsfrage zielführend. Man lese diesen Text denn als Rat, einige Frustrationstoleranz ins Archiv mitzubringen – ob man dort zu viel oder auch zu wenig findet, am Ende wird man wieder auf die Funde zurückgeworfen.
Alexander Hobe ist Historiker und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Für seine Doktorarbeit untersucht er im Rahmen des Projekts Interessenverbände und Suprastaat – Die Europäisierung von Weltkriegsveteranen und die europäische Integration in der frühen Nachkriegszeit die Geschichte westdeutscher und französicher Verteranen.
[1] Z.B.: Anndal Narayanan: Home from the Djebel. The making of Algerian war vetereans in France, 1956-1974. A dissertation submitted to the faculty at the University of North Carolina at Chapel Hill in partial fulfillment of the requirements for the degree of Doctorate of Philosophy in the History Department. Chapel Hill. 2016; Samuel André-Bercovici: Les anciens combattants dans l’Algérie coloniale : les associations d’anciens combattants et l’Algérie française (1942-1962). Histoire. 2014. dumas-01123704. Mémoire de Master. Université Paris 1 – Panthéon-Sorbonne. 2014; Chris Millington: From Victory to Vichy. Veterans in inter-war France. Manchester. 2012.