Während meines Praktikums am Hamburger Institut für Sozialforschung wurde ich im Archiv mit der Bearbeitung der Broschürensammlung beauftragt. Aus arbeitsökonomischen Gründen sammelt das Archiv neues Archivgut für die Broschürensammlung in einer Vorablage. Sobald die Vorablage der Broschürensammlung überwiegend gefüllt ist, wird diese in einer Projektarbeit bearbeitet und in den Bestand eingearbeitet. Der Bestandsaufbau mit neuem Archivgut wird je nach Materialart und Sammlungsschwerpunkt unterschiedlich umgesetzt. Mein Archivprojekt bestand in der Bearbeitung der Broschürensammlung, deren inhaltlicher Schwerpunkt die „Sozialen Bewegungen“ (abgekürzt „SBe“) in der Zeit von 1945 bis heute sind.
Das Projekt
Bei der Projektbearbeitung lernte ich alle wichtigen Arbeitsschritte des Workflows bei der Einarbeitung von neuen Archivmaterialien im Bereich der Broschürenablage kennen und konnte diese überwiegend selbstständig oder in bestimmten Arbeitsabläufen im Team mit einem*r anderen Kolleg*in zusammen umsetzen. Ergänzend dazu beschäftigte ich mich unter anderem mit den Themenfeldern der Ordnung und Verzeichnung von Sammlungsgut sowie Arbeiten zur Digitalisierung und Bestandserhaltung.
Durch die Projektarbeit bekam ich zugleich vertiefende Einblicke in eine Vielzahl historischer Protestbewegungen, sozialen Bewegungen und Unterthemen im Zeitraum nach dem 2. Weltkrieg. Darunter sind größere Kategorien wie z.B. die Frauenbewegung, Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Studentenbewegung, Antirepressionsbewegung, Anarchistische Bewegungen oder Friedensbewegung, aber auch kleinere Kategorien wie z.B. Bürgerinitiativen und Stadtteilarbeit, die Antipsychiatriebewegung oder Homosexuellenbewegung. Außerdem lernte ich viele weitere Einzelbestände, die in Bezug zur Broschürensammlung stehen, durch die Bearbeitung näher kennen. Darunter der Sonderbestand rund um die G20-Gipfel-Proteste von 2017 und der Bestand zum „Sozialistischen Büro“ aus ca. den 1970er Jahren innerhalb des thematischen Bereichs der „Undogmatischen Linken“.
In allen Arbeitsschritten war das sogenannte Findbuch das Kernstück für die Bearbeitung der Broschürensammlung. Das digitale Findbuch ist das Erschließungswerk einer jeweiligen Sammlung im Archiv und passt sich inhaltlich an die Systematik der Bibliothek im Sammlungsschwerpunkt „Prostestbewegungen / Soziale Bewegungen“ an. Im Findbuch sind die vorderen Signaturstellen sowie die exakte Bestandsmenge eines jeweiligen Themas einer Sammlung vermerkt. Das Findbuch ist historisch gewachsen und erweiterbar aufgebaut. Während meines Projekts wurden in Team-Absprache weitere Unterkategorien ergänzt. Allerdings gibt es auch Schwachpunkte bzw. Herausforderungen in der schon lang bestehenden Systematik, wie z.B. teilweise fehlender Platz für nachträglich auftauchende Themen oder die Möglichkeit einer Mehrfachzuordnung aufgrund thematischer Überschneidungen einer Broschüre. Das Archiv-Team integrierte z.B. den für sich stehenden Themenpunkt „Anarchismus in der Frauenbewegung“ in die Systematik innerhalb des Bereichs „Frauenbewegung“, der zuvor noch fehlte und sich nur über den Bereich „Anarchistische Bewegungen“ einordnen ließ.
Die Bearbeitung der Broschürensammlung gliederte sich in die folgenden Arbeitsschritte:
- Sichtung des Archivguts:
- thematische Einordnung der Broschüren anhand des Findbuchs und der Systematik
- die Materialart des Archivguts feststellen (z.B. Flyer, Zeitschriften, Bücher) und ggfs. aussortieren
- Kontrolle des Zustands und Prüfen auf Beschädigungen, ggfs. Einsatz einer Schutzhülle aus Pergamin
- Dublettenkontrolle am Rechner mit der digitalen „Sondersammlung Protestbewegung“ anhand der dort abgelegten Broschüren-Cover
- Einscannen der Broschüren-Cover am Scanner (und ggfs. Nachbearbeiten des Ausschnitts am Rechner)
- Signaturvergabe für die einzelnen Broschüren, Vermerken der Signatur am Archivgut und für die Datei des Cover-Scans, Aktualisieren der Bestandsmenge im Findbuch
- archivgerechte Ablage der eingearbeiteten Broschüren in den Boxen im Magazin
- Sonderarbeit: Durchsehen jeder aktuell bearbeiteten Archivbox aus dem Magazin auf Vollständigkeit der physischen Broschüren, der korrekten Bestandsmenge im Findbuch, einer übersehenen Dublette und Einarbeiten von noch uneingepflegten Broschüren in den Bestand.
- Extra: Planung und Ideen zur langfristigen Aufnahme der Broschüren mit der Archivsoftware FAUST
Zum ersten Arbeitsschritt der Broschüren-Einarbeitung gehört das Sichten des neuen Archivmaterials. Die Broschüren aus den bereits grob vorsortierten Boxen der Vorablage werden inhaltlich eingeordnet, d.h. thematisch passend anhand des Findbuchs der Broschürensammlung einem Thema und Unterthema zugeordnet. Das Erschließungswerk enthält ein sehr feingliedriges und facettenreiches Themenspektrum. Die Unterteilung erfolgt innerhalb eines Themas bzw. eines Bereichs in verschiedene Unterthemen. Der folgende Screenshot zeigt einen Ausschnitt einer Systematikstelle des Findbuchs zur Veranschaulichung des Aufbaus.
Erster Arbeitsschritt: Sichten des Materials
Bei der Sichtung wird ebenfalls der Zustand des Archivmaterials geprüft und ggfs. bei beschädigten Borschüren eine zusätzliche Schutzhülle aus ph-neutralem Pergamin eingesetzt. Diese können verhindern, dass Broschüren, die durch z.B. eine beschädigte Rückenbindung oder durch Verschleiß gelöste einzelne Seiten oder ganze Lagen vorweisen, sich weiter auflösen. Es kommen auch einfach gefalzte Papierbögen als zusätzlicher Schutz zum Einsatz. Für eine Verstärkung der Bindung (von Materialien im DINA4-Format) können Rückenschienen aus Plastik genutzt werden.
Im Bereich der Bestandserhaltung werden drahtklammergeheftete Archivalien (Hefte und Broschüren) häufig einer sogenannten Entmetallisierung unterzogen, bei welcher diese von ihren Metallklammern befreit werden, um eine Oxidation des Metalls und die daraus resultierende schädigende Reaktion mit dem Papier zu verhindern. Entfernt werden ebenfalls Büroklammern und Metall-Heftstreifen, bereits gelochtes Archivgut wird dementsprechend durch einen plastikumhüllten Draht neu zusammengebunden.
Ein weiterer Aspekt bei der Sichtung ist die Materialform. Zunächst stellt sich die Frage „Was ist eigentlich eine Broschur?“. Durch mein Vorwissen aus meiner Handbuchbinderausbildung war für mich diese Frage schnell beantwortet. Eine Broschur weist z.B. in der Regel keinen festen Einband wie bei einem Buch auf und kann in unterschiedlicher Form gebunden werden. Gängig sind Klebebindungen, Drahtklammerheftungen oder einfache Fadenrückstichheftungen. Auch die Anzahl der Seiten bzw. der Lagen spielt eine Rolle in der Definition einer Broschüre aus handwerklicher Sicht. Ein lediglich in der Mitte gefalzter Bogen ohne weitere Bindung ist keine Broschur. Das Archiv unterscheidet sogar nach der Anzahl der Seiten, ob es sich noch um eine Broschüre handelt oder nur um einen Flyer, der in der losen Blattsammlung der Flugblattsammlung abgelegt werden muss.
In erster Linie werden also alle anderen Materialformen wie z.B. Protokolle, Akten oder auch Raubdrucke (d.h. illegale Nachdrucke eines bereits existierenden Druckwerkes), in der Vorsortierung aussortiert. Im Rückschluss daraus könnte man annehmen, dass sich hinter der Broschürensammlung abschließend nur einzig Broschüren verbergen, allerdings werden in dieser auch Zeitschriften (die rein optisch auch einer Broschüre entsprechen), gar ganze Bücher oder auch ein kombinierter Multimaterialmix aus z.B. einer Broschur plus Ton-Kassette, gesammelt. Diese Beispiele werden in Ausnahmen auch in der Broschürensammlung abgelegt, wenn sie als Einzelexemplar ohne Zeitschriftensammelhintergrund ein bestimmtes Thema abbilden oder als diverse Materialzusammenstellung als ein gemeinsames und nicht einzelteiliges Archivgutexemplar betrachtet werden.
Ablage mit System(atik): Die inhaltliche Zuordnung
Für eine stimmige Ablage der Broschüren in einem Themengebiet oder sogar mehreren, ist eine korrekte Inhaltserfassung maßgeblich. Die Broschüren müssen sorgfältig in ihren (bibliographischen) allgemeinen Angaben und Textinhalten betrachtet werden. Es wird geprüft von welcher Organisation, Einzelperson, Initiative, Partei, Gewerkschaft oder welchem Verein, Verbund, etc. die Broschüre herausgebracht wurde und welches Thema aus welcher Perspektive behandelt und betrachtet wird. Für diesen Arbeitsschritt kommt einem Hintergrundwissen zu den verschiedenen Sammlungs- und Themengebieten des Archivs, geschichtlichen Ereignissen und Kontexten, bestimmten Abkürzungen oder Symbolen sehr zu Hilfe und erleichtert und beschleunigt enorm den Einordnungsprozess. Bei einer unklaren Themenzuordnung muss ggfs. eine Themenrecherche zu einer Broschur gemacht werden, um mehr über die Hintergründe zu erfahren.
Ich habe die Inhaltseinordnung in der Regel alleine anhand des Findbuchs vorbereitet und später im Team mit einer*einem Kolleg*in nachbearbeitet und abschließend einer Systematikstelle zugeordnet. Dafür habe ich jede der Broschüren einzeln in ihren Inhalten durchgesehen und sie anhand des Ordnungssystems des Findbuchs in eine Vorsortierung abgelegt und mit Zetteln meine Ablage-Vorschläge vermerkt. Dieser Arbeitsschritt war für mich am arbeitsintensivsten und herausforderndsten, zugleich aber auch am spannendsten, da ich mich in die verschiedenen Unterthemen, Bezeichnungen, Abkürzungen und Organisationen schwerpunktmäßig im Zeitraum von 1945 bis heute erst einmal einarbeiten musste. Für eine passende Zuordnung musste ich dabei ebenfalls durchdringen, was sich hinter den einzelnen Unterpunkten im Findbuch an Inhalten und Themen eigentlich genau verbirgt. Für mich als Neuling waren auf den ersten Blick manche Themen-Bezeichnungen in der Systematik irreführend. Um mir die Zuordnung zu erleichtern, habe ich mir Fragen und bestimmte historische Ereignisse und Akteure verschiedener Protestbewegungen notiert und für mich recherchiert.
Nach der Besprechung im Team des endgültigen Ablageplatzes in der Systematik erfolgten die Schritte der Einarbeitung. Begonnen wurde mit dem Dublettenabgleich am Rechner in der digitalen Broschüren-Cover-Sammlung („Sondersammlung Protestbewegungen“) anhand der vorliegenden physischen Broschüren-Cover. Hierbei wurde festgestellt, ob eine Broschur bereits im Bestand aufgenommen wurde und dementsprechend nicht weiterbearbeitet wird. Alle neu hinzugekommenen Broschüren wurden am Scanner mit ihrem Cover eingescannt und anschließend in die digitale Broschüren-Cover-Sammlung mitaufgenommen (ggfs. musste ich die Ausschnitte der Scans am Rechner kurz nachbearbeiten).
Im nächsten Schritt erfolgte die Signaturvergabe der Scan-Datei, die Beschriftung des Archivguts mit Bleistift mit der entsprechenden Signatur und die Aktualisierung der Bestandsmenge im Findbuch.
Die Signatur wird immer fortlaufend vergeben und besteht aus dem Bestandsnamen „SBe“ für „Soziale Bewegungen“, einer untergeordneten Klasse in Form der numerischen Systematikstelle und deren Namen, einer fortlaufend nummerierten Unterklasse „G“, z.B. „G1“, und dem Namen der Unterklasse bzw. des Themas. Ein Beispiel: die Klasse „SBe 730 G5 Störfälle, Katastrophenschutz“ steht unterhalb der übergeordneten Klasse „SBe 730 Anti-AKW-Bewegungs“, siehe folgender Screenshot mit einem Findbuch-Ausschnitt.
Nach dem abgeschlossenen Einarbeiten werden die Broschüren archivgerecht in den Archiv-Boxen im Magazin abgelegt. Diese bestehen im Rahmen der Bestandserhaltung aus ph-neutraler Pappe und schützen das Archivgut vor Licht, Staub und direkter Feuchtigkeit. Zusätzlich werden teilweise auch Mappen aus ph-neutralem Karton zur feineren Einteilung des Inhalts innerhalb einer Archivbox eingesetzt. Sobald die Archiv-Boxen voll waren, wurden neue zusammengefaltet und der Ablageplatz im Regal erweitert. Am Ende meiner Projektzeit versah ich alle neu eingestellten und im Inhalt veränderten Archiv-Boxen mit neuen Schildern für eine aktuelle Inhaltsangabe.
Innerhalb meiner Praktikumszeit konnte ich das Broschürenprojekt nicht vollständig abschließend bearbeiten, aber bereits einen Großteil der Broschüren in den Bestand einarbeiten. Insgesamt habe ich ca. 60 Archivboxen und rund 1200 Broschüren bearbeitet. Das Projekt wird nach meinem Praktikum von den Kolleg*innen des Archivs abschließend bearbeitet werden.
Als kleines Extra sammelte ich mögliche Umsetzungsvorschläge für die zukünftige Herangehensweise an die langfristige Aufnahme der Broschüren in den Thesaurus mit der Archivsoftware FAUST9. Dabei erarbeitete ich z.B. welche Metadaten bzw. Angaben wichtig bei der Aufnahme der Broschüren sind und wie die Ablage aussehen könnte.
Besonders gefallen hat mir an dem Projekt, dass ich auf praktischer Ebene alle Arbeitsschritte ausüben und begleiten konnte und dabei den Archivbestand unter den Aspekten der Bestandserhaltung und Digitalisierung unter neuen Gesichtspunkten betrachten lernte.
Marie Zittier, März 2022