Das Naziparadies Chiles in den Händen einer Praktikantin
Was macht man während eines dreimonatigen Praktikums in Archiv und Bibliothek des Instituts für Sozialforschung? Tagesaktuelle Speisepläne der Mensa ausdrucken und für die Belegschaft Kaffee kochen? Wohl kaum.
Als ich im Januar 2021 mein Praktikum eben dort begann, habe ich anfangs mehrere Einführungen in die Bibliotheks- und Archivbestände, aber auch in die verschiedenen Arbeitsfelder bekommen. Mit dem Fortschreiten des Praktikums bekam ich bald eigene Aufgaben in der Bibliothek. So zum Beispiel die wöchentliche Zeitschrifteneinarbeitung oder durfte eigene Arbeiten in dem Datenbanksystem durchführen. Aus dem Archiv des Instituts bekam ich mein Praktikumsprojekt. Dies ist Pflicht für Studierende, welche ihr Praktikum Studiums begleitend antraten. Als Projekt sollte ich einen eigenen Bestand des Archivs bearbeiten.
Thema „meines“ Projekts: Die Colonia Dignidad. 34 Aktenordner voller Prozessakten, Korrespondenzen und anderem Begleitmaterial. Als jemand, die noch nie zuvor einen Bestand bearbeitet hatte, war das am Anfang ziemlich einschüchternd. Wo fängt man an? Wann hört man auf? Und was mache ich eigentlich dazwischen? So viele Fragen und zum Glück mindestens genauso viele liebe KollegInnen, die mir jede davon gerne beantwortet haben.
Da ich zuvor noch nie von der Colonia Dignidad, geschweige denn von Paul Schäfer gehört hatte, war es meine erste Aufgabe zu recherchieren und mich in das Thema einzulesen.
Der offizielle Name der Colonia Dignidad lautete Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad, zu Deutsch Wohltätigkeits- und Bildungsgemeinschaft Würde. Sie war eine christliche Einrichtung in Chile, in der Jahrzehnte lang Hunderte von deutschen Auswanderern lebten. Die Kolonie wurde 1961 von Paul Schäfer gegründet, der auf diesem Areal seine Schäfchen hat arbeiten und Gottes Wort fürchten lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wer nicht spurte oder zurück nach Deutschland gehen wollte, der wurde gefoltert. Junge Männer wurden von Schäfer missbraucht und Frauen geschlagen, wenn sie „unzüchtig“ waren.
Nebenher wurden in der Colonia Dignidad Waffen für Augusto Pinochet gebaut und Widersacher auf dem Landgut gefoltert und umgebracht. So war die Kolonie nicht nur ein Zufluchtsort für fundamentalistische Christen, sondern auch ein Tummelplatz für chilenische und deutsche Nationalisten. Denn von Beginn an, gab es auf dem Mustergut nur wenige Regeln. Fleiß, Zucht & Ordnung. Wer sich nicht anpasste oder Bedenken äußerte, wurde bestraft.
All das rief 1976 Amnesty International auf den Plan. Man vermutete Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Colonia Dignidad. Zeugen und Indizien gab es zu Genüge, sodass Amnesty International, zusammen mit dem Magazin „STERN“ des Verlags Gruner & Jahr, die Gräueltaten öffentlich machte. Dies ließ sich die Kolonie allerdings nicht gefallen und begann im Jahr 1977 ein Verleumdungsverfahren. Zwanzig Jahre sollte der Prozess zwischen der Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad und Amnesty International dauern. 1997 gewann Amnesty International schließlich.
Und all das nun in den Händen einer zwanzigjährigen Praktikantin, die noch nicht einmal auf der Welt war, als der Prozess sein Ende fand.
Um so interessanter und aufregender fand ich es, mit diesem Bestand arbeiten zu dürfen. Dokumente, die sich insgesamt über etwa 35 Jahre erstreckten, durfte ich nun strukturieren, umbetten und katalogisieren.
Als Erstes ging ich daran, die einzelnen Ordner durchzusehen und aufzuschreiben, welche Materialien sich wo befinden. Überwiegend waren das Prozessakten, Korrespondenzen mit Anwaltskanzleien und Rechnungen, aber auch Mitgliederverzeichnisse, Karten und Zeugenaussagen von Geflohenen aus der Colonia Dignidad.
Nach einer Weile kennt man die wichtigsten Mitglieder der Kolonie, ihre Beziehungen mit anderen und ihre Funktion. Es fühlt sich fast so an, als würde man in eine fiktive Geschichte eintauchen, in der sich nach und nach die einzelnen Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenfügen. Man fiebert mit Amnesty International mit, und freut sich oder ist bestürzt, wenn sich wieder etwas Neues in dem Prozess ergeben hat.
Als Nächstes habe ich mit einem Kollegen zusammen die Systematik und das händische Findbuch erstellt. Darin sind alle Informationen enthalten, die ich während des ersten Durchsehens zusammentragen konnte. Dies hat mir sehr geholfen, den Überblick nicht zu verlieren und war eine prima Gedankenstütze dafür, wenn ich mal nicht mehr wusste, was in welchem Ordner zu finden ist.
Anschließend ging es direkt los mit der „Entmetallisierung“ und dem Umbetten der Dokumente. Zuerst in Mappen und anschließend in Boxen, die jeweils Signaturen bekommen haben und in das Datenbanksystem eingetragen wurden. Und damit ist das zuerst riesig wirkende Projekt Colonia Dignidad schlussendlich in wenige Boxen verschwunden, in denen man es noch lange und hoffentlich besser wiederfinden kann.
Rückblickend lässt sich s agen, dass ich durch die Bearbeitung eines eigenen Bestandes kaum besser hätte lernen können, wie die Arbeit in einem Archiv aussehen kann. Ich bin froh, dass mir die Archivarinnen und Archivare zugetraut haben, selbstständig an einem Bestand zu arbeiten. Auch meine Arbeitsaufgaben abseits des Projektes in der Bibliothek, haben mir sehr dabei geholfen, ein besseres Verständnis für die Arbeit von BibliothekarInnen und ArchivarInnen zu bekommen. So geht der Beruf doch mit deutlich mehr Organisationstalent und Sachverständnis einher, als es zunächst den Anschein hat.
Aus meinem Praktikum gehe ich mit vielen neuen Erfahrungen und neuer Begeisterung für das Archiv- und Bibliothekswesen heraus und bin darin bestärkt worden, dass mein Studium und mein Ziel mit zeitgeschichtlichen Dokumenten zu arbeiten, genau das Richtige für mich ist.
Hannah Hirschberg, 19.3.2021