von Erik Kömpe
In meinem Dissertationsprojekt setze ich mich mit der praktischen Berufsausbildung und Umschulung von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland in den 1970er und 1980er Jahren auseinander. Dabei fokussiere ich mich inzwischen auf Sondereinrichtungen für behinderte Menschen, sogenannte Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke. Quellen zu diesen Einrichtungen finden sich jedoch nur begrenzt in staatlichen Archiven und beinhalten zumeist Zeitungsartikel, Korrespondenzen, Bauanträge oder Informationsmaterialien. Damit lassen sich durchaus der Wandel institutioneller Rahmenbedingungen und Aushandlungsprozesse mit staatlichen Akteuren untersuchen, doch über die Praxis der Ausbildung, interne Konflikte sowie etwaige Abweichungen von den seitenlangen Konzeptpapieren verraten sie nur selten etwas. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie den Nachlass des ehemaligen Leiters der Vereinigten Anstalten Friedehorst im Diakoniearchiv oder die Bestände der Staatsarchive von Bremen und Hamburg.
Eine umfassendere Lösung des Problems schien schnell gefunden: Quellen in den Einrichtungen selbst akquirieren. Hier gibt es auch durchaus etablierte, professionell geführte Archive wie etwa in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld. Andere Einrichtungen wiederum haben zwar nicht das, was Historiker:innen normalerweise unter einem Archiv verstehen, aber es gibt eine verantwortliche Person für die Akten, und Teile der Bestände wurden bereits zu Forschungszwecken gesichtet. Vor allem die zahlreichen Aufarbeitungsstudien zu Einrichtungen der Behindertenhilfe in den letzten 15 Jahren haben in einigen Einrichtungen zu einer größeren Offenheit geführt, sich kritisch mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Hiervon konnte ich in den Fällen der Paulinenpflege Winnenden und der Diakonischen Stiftung Wittekindshof profitieren. Zwar ist die Überlieferung dort weniger dicht als in Bethel, aber dennoch aussagekräftig für die Ausbildungspraxis.
Danach wurde die Recherche jedoch wesentlich komplizierter, da es das Ziel meines Projekts ist, herauszufinden, inwieweit sich die Ausbildung oder Umschulung bei unterschiedlichen Trägern und je nach Art und Ursache der Behinderung unterschied. Alle bis dahin akquirierten Einrichtungen gehören der Diakonie an und deckten noch nicht alle Behinderungsarten ab, die ich untersuchen wollte. Es galt mehrere Probleme zu lösen: Ich suchte weiterhin nach einer Einrichtung für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, einer Einrichtung mit katholischem Träger, einer mit einem öffentlichen Träger und mindestens einem Berufsförderungswerk.
In diesen Fällen griffen auch meine bisherigen Lösungsstrategien nicht, wodurch ich begann quasi jede passende Einrichtung zu kontaktieren. Hierdurch begann eine lange und in Teilen durchaus frustrierende Suche nach den bisher unentdeckten Kellern.
Auf die meisten meiner Kontaktanfragen erhielt ich keine Antwort. Und wenn sich Telefonate mit Mitarbeiter:innen ergaben, hatten diese häufig dasselbe Ergebnis: Man habe wegen des Datenschutzes alle Akten vernichtet oder ich dürfe sie aus diesem Grund nicht einsehen. Selbst wenn Akten vorhanden waren und die Einrichtung meiner Anfrage prinzipiell offen gegenüberstand, dauerte es etwas, bis die Leitungen der Einrichtungen überzeugt waren, mir Einblicke zu gewähren.
Inzwischen ergaben sich vier Chancen solche Keller einzusehen – mit jeweils sehr unterschiedlichem Ausgang. Das Hauptproblem besteht darin, dass es in den meisten Fällen keine verantwortlichen Personen für die Archive gibt. Dadurch ist oft unklar, welches Material vorhanden ist. In einer Einrichtung fand ich beispielweise nichts Hilfreiches, in den anderen drei hingegen schon. Dies lässt sich aber erst durch eine eingehende Sichtung feststellen. Bis es dazu kommt, vergeht aber viel Zeit. Zunächst müssen verschiedene Fragen geklärt werden, etwa wie der Datenschutz eingehalten werden kann und ob Reproduktionen möglich sind. Mitunter müssen Datenschutzerklärungen in Absprache mit der Einrichtung erstellt werden – obwohl zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen unklar ist, ob die Unterlagen dem Projekt weiterhelfen.
Die Sichtung des Materials birgt ebenfalls Herausforderungen. Meistens gibt es nicht „das Archiv“ in einer Einrichtung, sondern verschiedene Orte an denen unterschiedliches Material lagert. In meinem Fall gab es häufig Kellerräume, in denen die Akten der ehemaligen Schüler:innen aufbewahrt wurden, aber eben auch Abstellkammern mit grauer Literatur zu verschiedenen Einrichtungen sowie Fachliteratur. Manchmal existierten auch separate Archive, in denen die Verwaltungsabteilung oder die Berufsschule ihre Ordner gesondert abgelegt hatten. Teilweise waren diese Bestände aber im Zuge von Umbaumaßnahmen vernichtet worden. Für diese anderen Archive waren aber meistens andere Personen zuständig als meine ursprünglichen Ansprechpartner:innen, sodass neue Absprachen spontan vor Ort getroffen werden mussten oder das Archiv während des Besuchs in der Einrichtung nicht zugänglich war.
Ebenso ist die Genese der Bestände unklar. Dadurch lässt sich bestimmtes Material nur schwer zuordnen, und Veränderungen an den Akten seit ihrer Erstellung sind kaum nachvollziehbar. Bei diesem Problem halfen mir insbesondere langjährige Mitarbeitende der Einrichtungen. Gerade für die 1980er Jahre trugen sie wertvolle Informationen bei, da einige in dieser Zeit ihre Tätigkeit in der Einrichtung aufgenommen hatten. Sie beantworteten offene Fragen, halfen bei der Einordnung der gefundenen Materialien und ermöglichten mir mitunter erst den Zugang zu bestimmten Quellen. Manche erinnerten sich an Ordnerbestände in Büros, hatten alte Fotos oder Ausbildungsmaterialien aufbewahrt und stellten mir diese zur Verfügung. Teilweise handelte es sich hierbei um sehr hilfreiche Materialien. Einige Einrichtungen konnten zudem Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitenden und Leitungen vermitteln. Beispielsweise brachten mir ehemalige Lehrkräfte und Ausbilder zu Interviews Materialen aus der Ausbildung oder dem Berufsschulunterricht mit.
So konnte ich inzwischen einen Quellenkorpus aus diesen Ausbildungseinrichtungen zusammenstellen, der zwar je nach Einrichtung stark variiert, jedoch insgesamt Erkenntnispotentiale für die Erforschung der Berufsausbildung von Menschen mit Behinderungen bietet.
Neben der Akquise von Quellen haben die Recherchen in den Einrichtungen meine Perspektive auf den Forschungsgegenstand entscheidend geprägt. Den Großteil meiner Archivaufenthalte absolvierte ich in den Einrichtungen selbst, zu denen ich forsche. Ich konnte mir Räumlichkeiten vor Ort ansehen, mit am Auf- und Umbau beteiligten Personen sprechen und dadurch das Selbstverständnis der Einrichtungen kennenlernen. In vielen Fällen war ich auf die Hilfsbereitschaft von Mitarbeitenden angewiesen, um die Einrichtungen und auch die regionalen Kontexte zu verstehen. Dafür bin ich diesen Menschen dankbar und hatte viele spannende und lehrreiche Begegnungen. War ich zunächst ein von außen kommender in diesen Einrichtungen, kenne ich mich inzwischen sehr gut aus und durch die engen Kontakte zwischen den Einrichtungen, laufen manche Anfragen inzwischen wesentlich einfacher ab. Diesen Prozess gilt es im Hinblick auf die eigene Forschungsperspektive zu reflektieren.
Das Projekt bekam – gerade in der Phase als ich viel in den Institutionen war – eine institutionengeschichtliche Schlagseite. Diese schlich sich langsam ein und zeigt sich nach wie vor in der Konzeption. Grundsätzlich ist das Projekt jedoch in der Disability History verortet. Eines der Ziele dieses Forschungsbereichs ist es, Menschen mit Behinderungen als Subjekte mit eigener Handlungsmacht zu fassen und eben nicht als Objekte sozialstaatlicher Fürsorge. Ich suchte in den Einrichtungen daher nach Aushandlungsprozessen zwischen den Auszubildenden und den Mitarbeitenden, die teilweise konfliktreich waren und fand auch die repressiveren Seiten der Einrichtungen in den Kellern und Abseiten. Aus diesem Spannungsfeld zwischen der Verbundenheit zu den Einrichtungen heute und den Menschen, die mir die Erkenntnisse erst ermöglicht haben, und den repressiven Seiten des Ausbildungssystems mit Leistungs- und Normalisierungsdruck, der auf Menschen mit Behinderung ausgeübt wurde, resultiert ein ambivalentes Verhältnis zu den Einrichtungen. Gerade die emotionale Distanz ist meiner Meinung nach aber notwendig, um unbeeinflusst und präzise das Quellenmaterial zu interpretieren. Das beschriebene Spannungsfeld dafür wahrzunehmen und sich immer wieder bewusst zu machen, erachte ich als Voraussetzung dafür.
Erik Kömpe ist seit 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter
im Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Abteilung Geschichte des 19.-21. Jahrhunderts.
In seinem von der DFG geförderten Promotionsprojekt forscht er zur Praxis der beruflichen Rehabilitation behinderter Jugendlicher und Erwachsener in der Bundesrepublik Deutschland (1969-1990).