Bei der Bearbeitung des umfangreichen Vorlasses von Wolfgang Guhle [1] ist ein weiterer kleiner Schatz gehoben worden. In einem der 143 Umzugskartons fand sich ein unscheinbarer Schnellhefter mit den Unterlagen der Projektgruppe Pop und Bewußtsein, die vor 50 Jahren von Wolfgang Guhle und Christoph Burchard in Hamburg gegründet wurde.

Love and Peace auf Fehmarn, 1970

Anlass war das legendäre Open-Air-Festival Love and Peace auf Fehmarn vom 4. bis 6. September 1970 – das „Woodstock des Nordens“. Der letzte Auftritt von Jimi Hendrix und der erste der Berliner Agitrockband Ton, Steine, Scherben, die sich zu dieser Zeit noch Rote Steine nannten. Die Homepage http://www.fehmarnfestival1970.com/ dokumentiert den Ablauf des Festivals sehr anschaulich mit vielen Dokumenten, Fotos und Zeitzeug*innenberichten; ebenso der Wikipedia-Eintrag.

Deshalb hier nur eine ganz knappe Zusammenfassung: Das Love and Peace Festival war eines der ersten und mit 25.000 – 30.000 Gästen größten Open-Air-Festivals seiner Zeit in Deutschland. Über 30 Bands traten auf – oder eben auch nicht.
Die Wetterbedingungen waren auf der ansonsten sonnenverwöhnten Insel ausgerechnet an diesem Wochenende sehr schlecht und das führte zu Abbrüchen von Auftritten oder Verzögerungen im Programm (Jimi Hendrix trat erst am Sonntag auf, statt wie angekündigt am Samstag). Dies wiederum führte zu schlechter Stimmung bei den durchnässten Besucher*innen und es kam zu Schlägereien mit den ca. 200 Rockern, die sich den Veranstaltern als Ordner aufgedrängt hatten. Die Versorgungs- und Infrastruktur war eher schlecht als recht.

Fotos: Günter Zint

Auch finanziell wurde das Unternehmen zu einem Desaster. Beate Uhse hatte sich mit 200.000 DM beteiligt und ihre damals 20 „Sexshops“ als Vorverkaufsstellen zur Verfügung gestellt, doch unterm Strich entstanden 400.000 DM Verlust und Schäden am Gelände. Das Organisationszentrum wurde abgebrannt, als die Helfer*innen ihr Geld nicht bekamen und die Veranstalter verschwunden waren. Für die folgenden Jahre galt ein generelles Festival-Verbot auf Fehmarn.

Die Hamburger Morgenpost reduzierte das Festival auf seine Klischeevorstellungen von Hippies und „Pop-Jüngern“, kritisierte das schlechte Wetter und „wenn einmal die Sonne schien kämpfte Beate Uhse für den Sex [2] und verschenkte einige ihrer „Scherzartikel“ und aufgeblasene Luftballons.“. Aber auch die Kieler Veranstalter*innen wurden für den Einsatz von 200 Rockern als Ordner kritisiert und, dass es insgesamt doch nur um’s Geldmachen gehe.

Hamburger Morgenpost, 7.9.1970 | Mit freundlicher Genehmigung der Morgenpost Verlag GmbH
Hamburger Morgenpost, 7.9.1970 | Mit freundlicher Genehmigung der Morgenpost Verlag GmbH
Hamburger Morgenpost Nr. 207 vom 7.9.1970 | Mit freundlicher Genehmigung der Morgenpost Verlag GmbH
Hamburger Morgenpost Nr. 207 vom 7.9.1970 | Mit freundlicher Genehmigung der Morgenpost Verlag GmbH


Aus der Fehmarn-Kritik entsteht: Die Projektgruppe „Pop und Bewußtsein“

Letzteres störte auch Wolfgang Guhle und Christoph Burchard: Bereits auf Fehmarn sprachen sie mit unzufriedenen Besucher*innen und sammelten Adressen, um sich weiter austauschen zu können. Direkt am Montag nach dem Festival, am 7. September 1970, trafen sie sich mit 30 Leuten und gründeten die Projektgruppe Pop und Bewußtsein, um ihre Kritik zu formulieren und Handlungsperspektiven zu entwickeln.
Vier Wochen später veröffentlichten sie ein erstes Paper. Hauptkritikpunkte waren die schlechte Organisation und auch der Einsatz von Rockern als Ordner [3], die hohen Eintrittspreise sowie die Tatsache, dass nur ein Teil der angekündigten Bands auftraten. Verantwortlich dafür seien „Profitinteressen von Veranstaltern, Geldgebern und Bands“. [4]
Ihrer Einschätzung nach kanalisiere der „Popkonsum“ das Unbehagen und den Protest der Jugend. Statt aber nur zu konsumieren und so vor dem System zu flüchten,  forderten die „Pop und Bewußtsein“-Initiatoren, sollten sich die Jugendlichen in Diskussionskreisen organisieren, politisch diskutieren und ein kritisches  Bewußtsein entwickeln. Die Hamburger Gruppe sei ein gutes Beispiel dafür, wie sich aus einem losen Diskussionskreis eine feste Gruppe entwickeln könne.

1. Papier der Projektgruppe
1. Papier der Projektgruppe
1. Papier der Projektgruppe, Rückseite
1. Papier der Projektgruppe, Rückseite

Als die Beatmusik begann, populär zu werden (Liverpool), war sie noch eine Ausdrucksform der davon begeisterten Jugend. In Beat, Kleidung, Haartracht etc. drückte sich der Protest gegen die Erwachsenenwelt aus, Protestsongs brachten die politischen und gesellschaftlichen Ansichten. (…) Das vorhandene (irrationale) Unbehagen der Jugend wird (…) kanalisiert in den Popkonsum.
Solange die Popwelle (Festivals etc. ), die eine Ersatzbefriedigung für die Jugendlichen darstellt, von der Profitgier der Manager ausgenutzt wird, sehen wir als einzige Alternative, daß die Jugendlichen, die in der heutigen Gesellschaft ständig Frustrationen ausgesetzt sind, ihr Unbehagen und ihre Kritik an der Gesellschaft in politische und damit produktive Arbeit umsetzen und damit die Voraussetzungen für die Ausbeutung auf Festivals direkt bekämpfen.“

Der Pop ist ein systemimmanentes Ventil, das den jungen Leuten eine Flucht vorm System ermöglicht, indem es ihnen ein Anti-System vorspiegelt und so kritisch-antiautoritäre Strömungen kanalisiert und unschädlich macht, also zu einem wichtigen Faktor. der Unterdrückung auch im Privatleben wird.“

In einem dreiseitigen Papier (ebenfalls vom Oktober 1970) wurde versucht die „Pop-Bewegung“ ausführlicher zu analysieren:
Zur eingehenderen Analyse des Pop-Produktionsprozesses heute, teilen wir die an diesem Prozeß Beteiligten in drei Gruppen ein:
1) die Produzierenden (Musiker), 2) die Produzenten (Manager), 3) die Konsumenten (Pop-Jugend)“.

2. Papier der Projektgruppe, Seite 1
2. Papier der Projektgruppe, Seite 2
2. Papier der Projektgruppe, Seite 3

Interessant ist ihre Bewertung von leichtem Pop- und Drogenkonsum durch bewusste Genoss*innen als statthafte „Zerstreuung“, die dem Bewusstsein nicht schade. Konsequenterweise nennt die Gruppe sich jetzt auch Projektgruppe Pop-Kritik, denn es geht ihr nicht um eine kommerzfreie und selbstbestimmte Gegenkultur, sondern um Kritik an den herrschenden Verhältnissen.

Nach eigenen Angaben beteiligte sich die Projektgruppe im November/Dezember 1970 an der Veranstaltungsreihe POP – MUSIK. Revolution bis zum Trommelfell oder Trommeln der Revolte , organisiert von der Hamburger Jugendbehörde in Zusammenarbeit mit dem Senatsbeauftragten für politische Bildung an der Universität Hamburg.

Programm-Flyer 1970
Programm-Flyer 1970
Programm-Flyer 1970
Programm-Flyer 1970

Im März 1971 versuchten sie es mit einer eigenen Veranstaltung dieser Art: Diskussion und Musik in einer Turnhalle in Bad Bevensen. Das solidarische Feedback der Genoss*innen vor Ort war allerdings vernichtend: „Die Teilnehmer sind gekommen um Musik zu hören und mehr nicht.[…] Ihr seid vielleicht von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Teilnehmer ein gewisses Bewußtsein haben. Dies ist aber nicht der Fall.“

Pop und Bewußtsein lädt ein zur Popmusikveranstaltung in der Turnhalle Bad Bevensen, [März] 1971.
Der klassenkampfgeschulte Genosse vor Ort sieht Verbesserungspotential...
...und rät: "Stufenweise vorgehen mit den Inhalten und Anforderungen".

Diese Kritik wurde angenommen und zum Anlass für eine Vollversammlung im Juli 1971, auf der über das weitere Vorgehen beraten werden sollte. Leider ist über deren Verlauf und Ergebnisse hier nichts überliefert. Die Einladung zur Vollversamnmlung ist dann auch die letzte bekannte Verlautbarung der Projektgruppe – jetzt unter dem Namen „Arbeitsgruppe Pop“; wahrscheinlich hat sie sich bald danach aufgelöst. Sie konnte sich mit ihrem Ansatz der reinen Kritik kein Gehör verschaffen: Die Pop-Konsument*innen hörten weiter einfach nur Musik.

Die „Arbeitsgruppe Pop“ veranstaltete wie angekündigt, noch ein Konzert mit Ton, Steine, Scherben. Auf der Pressemitteilung („leider ein alte“), die die Agitrockband zu diesem Anlass nach Hamburg schickte, wurde das Fehmarner Love and Peace Festival noch als erster Auftritt der Band genannt. 

Die große Zeit der selbstorganisierten, unkommerziellen Open-Air-Festivals kam dann Ende der 1970er mit Umsonst und draußen und in den 1980ern mit den explizit politischen Festivals wie Rock gegen Rechts (in Frankfurt gegen NPD-Parteitage 1979 und 1980), Tanz auf dem Vulkan (in Gorleben 1982)  u.a. Sie waren ein wichtiges Mobilisierungsmittel der undogmatischen Linken.


Revivals des Fehmarn-Festivals ab 1995

Nach 25 Jahren wurde das Festival-Verbot von 1970 aufgehoben und ein Revival-Festival anlässlich des 25. Jahrestages des Love and Peace Festivals konnte stattfinden. Von 1995 bis 2010 trafen sich Festival-Fans jährlich im September auf der Insel, dann noch einmal zum 50. Jubiläum 2020.
Der Fotograf Günter Zint, der schon beim ersten Festival 1970 dabei war, dokumentierte auch das Festival 2004:

Fotos: Günter Zint

Die TAZ Nord berichtete über das Jimi-Hendrix-Revival Festival 2008:

TAZ Nord, Sonnabend/Sonntag, 19./20. Juli 2008 | Mit freundlicher Genehmigung der TAZ
TAZ Nord, Sonnabend/Sonntag, 19./20. Juli 2008 | Mit freundlicher Genehmigung der TAZ

Seit 1997 erinnert ein circa 2,5 m hoher Gedenkstein aus rotem Granit, der an der Stelle der ehemaligen Bühne aufgestellt ist, an das Love-and-Peace-Festival und Jimi Hendrix’ letzten Festival-Auftritt (Aufschrift: „Jimi Hendrix – Fehmarn – Love and Peace Festival – 4.–6. Sept. 1970“).

Die eingangs gestellte Frage „Love and Peace oder Kommerz?“ ließe sich noch erweitern: „oder Verklärung ?“.

DS, 04.09.2021

Foto © Günter Zint
Foto © Günter Zint

[1] Der Bestand ist bislang nur zu einem kleinen Teil bearbeitet. Die Unterlagen zur Projektgruppe Pop und Bewußtsein finden sich unter der Signatur GUH_072_01

[2] Die Flensburger Unternehmerin war engagierte Vorkämpferin für Sexualaufklärung und Empfängnisverhütung und damit Feindbild reaktionärer Gesellschaftskreise und der Kirchen. Ein Teil des Firmenarchivs befindet sich heute in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH).

[3] Auch in Woodstock wurden Hells Angels als Ordner eingesetzt, was zu Gewalt führte.

[4] Die inhaltlichen Affinitäten zum Artikel in der Hamburger Morgenpost vom 7. September (!) sind auffallend. Da sich der Artikel im Schnellhefter befand, ist davon auszugehen, dass die „Mopo“ beim Gründungstreffen auf dem Tisch lag.