Vor 50 Jahren, am 28. Januar 1972, unterschrieb der damalige Bundeskanzler Willy Brandt den Ministerpräsidentenerlass zum Umgang mit der „Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“, den sogenannten „Radikalenerlass“ oder auch „Extremistenbeschluss“, wie er von den Befürworter*innen genannt wurde.
Darin hieß es: „Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt.“ Welche Betätigungen genau als verfassungsfeindlich eingestuft wurden, bestimmte der Verfassungsschutz. Dazu reichte manchmal schon die bloße Mitgliedschaft in einer Organisation, der unterstellt wurde, verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen. Es wurden nicht nur Bewerber*innen, sondern auch bereits im öffentlichen Dienst angestellte oder verbeamtete Menschen überprüft und gegebenenfalls entlassen. (1)
„Per Regelanfrage wurden im Zeitraum von 1972 bis 1991 von den Verfassungsschutzämtern rund 3,5 Millionen Bewerber bzw. Anwärter für den öffentlichen Dienst einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. In ca. 11.000 Fällen kam es zu Verfahren, ca. 1.250 Bewerber wurden nicht eingestellt. Im gleichen Zeitraum wurden ca. 260 bereits verbeamtete oder angestellte Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Von diesen Maßnahmen betroffen waren vor allem Lehrer (rund 80 Prozent) und Hochschullehrer (rund 10 Prozent)“. (2)
Vorgeschichte (6)
Der Radikalenerlass tauchte nicht aus dem Nichts heraus auf, sondern steht quasi in einer „Traditionslinie“. Hier wären u.a. zu nennen:
– Der „Beschluss der Bundesregierung 19. September 1950 zur Verfassungstreue der öffentlich Bediensteten in der Bundesrepublik Deutschland“, der sogenannte „Adenauererlass“.
– Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, das u.a. regelte, nicht-arische Beamte zu entlassen.
– Das von Bismarck erlassene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. Oktober 1878, das sogenannte „Sozialistengesetz“.
– Die preußische Notverordnung von 1849 gegen unzuverlässige Elemente.
Noch vor dem bundesweiten „Extremistenbeschluss“ war in der SPD-regierten Hansestadt Hamburg bereits ein eigener, Erlass – der „Hamburger Erlass“ – ergangen. (2)
Umsetzung und Auswirkungen
Obwohl ein „Gesinnungsprüfung“ bei öffentlichen Bediensteten laut Überschrift des Erlasses von 1972 auch auf Rechtsradikale angewendet werden sollte (wobei die Definition von „…radikal“ nicht konkret definiert war), wurde hauptsächlich das linke Spektrum ins Visier genommen: Menschen, die Veranstaltungen von kommunistischen Organisationen besuchten, Unterschriftenlisten gezeichnet hatten, Mitglieder und Sympathisant*innen von K-Gruppen (z.B. KBW, KPD) und Antifaschist*innen (z.B. Mitglieder des VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes).
Dabei gab es in vielen Institutionen nachweislich sehr viele (ehemalige) und Neo-Nazis.
„Die Zahl der Neonazis im öffentlichen Dienst [war] noch 1971 höher ]…] als die linker „Verfassungsfeinde“. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre waren hunderte von Mitgliedern der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in den öffentlichen Dienst gelangt, vor allem bei den Länderpolizeien, beim Bundesgrenzschutz und der Bundeswehr, aber auch im Schuldienst. (3)“
Zwei satirische Plakate, die den NS-Bezug thematisieren:
Da in den 1970er Jahren weite Bereiche des öffentlichen Lebens (wie z.B. Post, Telefon, Bahn, Krankenhäuser) noch nicht privatisiert waren, gab es eine große Anzahl Stelleninhaber*innen im Öffentlichen Dienst. Der Radikalenerlass traf daher „auch Justizangestellte (rund 5 Prozent), Post- und Bahnmitarbeiter, Verwaltungsangestellte, Offiziere, Sekretärinnen, Sozialpädagogen, Bibliothekare, Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern, Bademeister, Laboranten“. (3)
Proteste und Aktionskomitees gegen Berufsverbote
An vielen Orten gründeten sich Aktionskomitees gegen Berufsverbote und es gab unzählige Veranstaltungen und Proteste, wie diese kleine Auswahl an Plakaten aus den 1970er Jahren belegt:
Alle Plakate stammen aus dem Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Neben vielen Plakaten, Broschüren und anderem Sammlungsgut gibt es hier als umfangreichen Bestand auch die kompletten Unterlagen des bundesweiten Komitees „Weg mit den Berufsverboten“, in dem hunderte von einzelnen Fällen sowie die übergreifende Selbsthilfe- und Solidaritätsarbeit von Betroffenen und ihren Unterstützer*innen dokumentiert sind.
Berufsverbote gab es nicht nur in der BRD, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Die Definition eines verfassungsfeindlichen Verhaltens wurde in der Bundesrepublik jedoch besonders eng ausgelegt, was sicherlich auch in der Abgrenzung zur DDR, dem anderen, kommunistischen Deutschen Staat begründet lag. Auch hier gab es zw. 1949 und 1989 „politisch motivierte Arbeitsplatzverweigerung“. (5)
Das deutsche Wort „Berufsverbot“ schaffte es sogar, als Lehnwort in andere Sprachen übernommen zu werden.
Aufhebung und Aufarbeitung
Willy Brandt, der 1969 mit dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ (und mit der FDP) nach 20 Jahren CDU/CSU-Regierung einen Machtwechsel in der BRD bewirken konnte und den Wunsch nach politischer Veränderung vieler Menschen, u.a. der Student*innenbewegung aufnahm, bezeichnete diesen Extremistenbeschlusß später als Fehler (4).
„Schrittweise hoben die SPD-regierten Länder den „Radikalenerlass“ auf. In Hamburg gab es ab 1979 keine Regelanfrage mehr. Als erstes Land setzte das Saarland den Erlass 1985 offiziell außer Kraft, als letztes folgte 1991 Bayern [..],“ wo allerdings als Ersatz dafür (vor dem Hintergrund des Beitritts der neuen Bundesländer) am 11. Dezember 1991 die „Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst“ eingeführt wurde. (2) Dadurch gibt es auch heute noch die Möglichkeit einer sogenannte „Bedarfsanfrage“ beim Verfassungsschutz, wenn sich Zweifel daran ergeben, ob ein/e Bewerber*in „jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung eintreten wird“.
Viele der ehemals Verfolgten und Entlassenen litten nicht nur seelisch, sondern haben – selbst wenn ihr Berufsverbot nach mehreren Jahren vor Gericht als Unrecht anerkannt wurde – durch die langen Lücken in ihrer Erwerbsbiographie auch deutlich weniger Geld im Portemonnaie, zum Beispiel wegen entgangener Beförderungen oder verringerter Rentenbezüge.
Inzwischen gibt es immerhin erste Schritte in Richtung Aufarbeitung, zum Beispiel durch Arbeitsgruppen in den Gewerkschaften: https://www.gew-berlin.de/aktuelles/detailseite/ein-wichtiger-erster-schritt-voran/
(bs, 14.1.2022)
Quellen (alle URLs abgerufen 14.01.2022):
(1) Ministerialblatt NRW v. 1972, Faksimile, abrufbar unter: https://www.1000dokumente.de/index.html?l=de&c=dokument_de&dokument=0113_ade&object=facsimile&pimage=02&v=100&nav=
(2) Friedbert Mühldorfer, Radikalenerlass, publiziert am 16.06.2014; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Radikalenerlass
(3) Rigoll, Dominik: Erlass zur Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst [Radikalenerlass], 28. Januar 1972, Einführung, URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0113_ade&object=context&st=&l=de
(4) 50 Jahre „Radikalenerlass“ – Geschichte und Aktualität einer umstrittenen Maßnahme. (Diskussionsveranstaltung: Livestream am 20.01.2022, 20:00 Uhr) URL: https://willy-brandt.de/ausstellungen/veranstaltungen/50-jahre-radikalenerlass/
(5) Klein, Thomas: Vierzig Jahre „Radikalenerlass“ – bloß ein westdeutscher Gedenktag? Abrufbar unter URL: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/GK_Geschichte/Berufsverbote_in_Ost_und_West.pdf
(6) Website von Betroffenen der Berufsverbote-Politik: http://berufsverbote.de/index.php/Berufsverbote-Geschichte.html