Anlässlich der Übernahme des Recherchematerials von Dr. Albert Vinzens zu seiner Biographie von Renate Riemeck ins Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, freuen wir uns, einen Brief von Herrn Vinzens an Prof. Dr. A. Patschovsky – inzwischen emeritierter Mittelalterforscher und Bekannter Renate Riemecks – veröffentlichen zu dürfen. Der Bestand ist noch unerschlossen doch bereits jetzt einsehbar (die Red.).

Sehr geehrter, lieber Herr Patschovsky,

Ihre Zeilen, dass Sie an meiner Riemeckbiografie Freude haben, ist eine großartige Rückmeldung. Vielen Dank! Sie haben allerdings nicht nur gelobt, sondern auch eine Frage gestellt: «Wie sind Sie eigentlich überhaupt auf das Thema gestossen? Und warum haben Sie es aufgegriffen?» – Diese Frage hat mich elektrisiert.

Ich habe im Nachwort des Buches ja durchaus erwähnt, dass mich insbesondere Riemecks Gedanken zur Pädagogik zur vertieften Auseinandersetzung mit ihr veranlasst hätten. – Das hat Sie anscheinend nicht so recht überzeugt, beziehungsweise Sie haben bemerkt (was mir selbst gar nicht klar war), dass ich da etwas gesagt und gleichzeitig etwas anderes verschwiegen habe. Wichtige Motive sind einem selbst ja oft verborgen und bedürfen der Geburtshilfe durch andere, beispielsweise durch eine solche Frage wie die von Ihnen gestellte.

Und so bin ich auf Spurensuche gegangen. Die Suche führt in das Jahr 1972 und zu Ulrike Meinhof – Renate Riemeck war ihre Pflegemutter. In diesem Jahr war zwischen den beiden Frauen der endgültige Bruch, wie er kurz danach geschah, bereits absehbar. Ich war damals Schüler an einem Gymnasium in der Schweiz und erlebte die Erschütterung, die durch die RAF in Deutschland ausgelöst wurde, aus der Distanz, doch mit großer Anteilnahme.

Vielleserin Riemeck bei einer Diskussion
Vielleserin Riemeck bei einer Diskussion

Im gleichen Jahr 1972 hatte die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September das Münchner Olympia-Attentat auf die israelische Mannschaft unternommen. Die Zeitumstände waren hoch explosiv. Sie waren ein junger und gründlicher Mittelalterforscher und nahmen in diesem Sommer Kontakt mit Renate Riemeck auf, um Riemecks unveröffentlichte Dissertation über die Ketzerbewegung in Thüringen für die mittelalterliche Häresieforschung zu erschließen. Die politische Couleur von Ihnen war eine ganz andere als die von Renate Riemeck. Ihre Verbindung schuf nicht die Politik, sondern ihr gemeinsames Interesse für die Geschichte der Ketzer.

Zurück zu Ihrer Frage, wie ich «eigentlich überhaupt auf das Thema gestossen» sei. Im Nachhinein stelle ich fest: Ein starker Antrieb war für mich die Verbindung zwischen diesen beiden Frauen. Sie stammten aus dem gleichen gesellschaftlichen Milieu. Beide hatten einen pazifistischen Hintergrund und das Anliegen, dafür in der Öffentlichkeit klare Worte zu finden. Die eine, Renate Riemeck, begann dabei langsam zu verstummen, während Ulrike Meinhof zu den Waffen griff – und so kam beiden, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, das Wirken durch Worte abhanden.

Als ich – lange vor der Arbeit an der Riemeckbiografie – erfuhr, dass Renate Riemeck 1949 die Pflegemutter der mit 14 Jahren Vollweise gewordenen Ulrike Meinhof geworden war, hatte mich das betroffen gemacht und auch etwas verwirrt. Immerhin war die Frau hinter Ulrike Meinhof, wenn ich das so sagen darf, mitverantwortlich für deren Denken (und, nota bene, wegen ihrer ausgeprägten Argumentationsfähigkeit wurde Ulrike Meinhof zum Kopf der RAF und zu ihrem gefährlichsten Mitglied erklärt).  

Ich habe mich an einer Stelle in der Riemeckbiografie mit dem Ex-Bundespräsidenten Gustav Heinemann auseinandergesetzt, er war sowohl mit Renate Riemeck als auch mit Ulrike Meinhof persönlich bekannt und hatte beiden Frauen gegenüber eine tiefe Wertschätzung. Über Ulrike Meinhof sagte er den verstörenden Satz: «Mit allem, was sie getan hat, so unverständlich es war, hat sie uns gemeint.» Dieses Wort war mir während des Schreibens des Buchs stets präsent. Dabei frage ich mich, ob Riemeck und ihre Pflegetochter ein Stück weit das Leben der jeweils anderen ermöglicht hat? Eine Untersuchung ihrer Sprachstile würde frappierende Interferenzen zwischen ihrem gleich-ungleichen Denken ans Tageslicht befördern, davon bin ich überzeugt.

Demonstration gegen das für Renate Riemeck ausgesprochene Berufsverbot im Sommer1960

Ulrike Meinhof hatte eine rote Grenzlinie überschritten und sich für den Terrorismus entschieden, während sich Renate Riemeck für eine Verständigung diesseits der Linie entschieden hatte. – So nahe sich sonst die Frauen einst auch waren, irgendwann hatten sie sich so weit voneinander entfernt wie die fernsten Galaxien im Universum. – Darüber zu schreiben hätte mich sehr gereizt, doch es ist mir bisher nicht möglich, vermutlich deshalb, weil ich, wie Renate Riemeck, diesseits der roten Linie geblieben bin und deshalb über das Innenleben von Ulrike Meinhof nur spekulieren könnte.

In meinem Buch habe ich mich deshalb bewusst auf Renate Riemeck konzentriert. Das erlebte ich allerdings nicht als Beschränkung, denn das Leben dieser Frau ist packend und ergreifend – und im Ganzen nichts weniger als ein Spiegel der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Gerade heute, wo die Frage nach der Rolle Deutschlands zwischen Ost und West (wieder) große Bedeutung gewonnen hat, lassen sich anhand von Riemecks Biografie wichtige Themen zu dieser Frage neu betrachten.

Renate Riemeck hat ein Leben lang Zivilcourage gezeigt und die unterschiedlichsten Menschen zum Gespräch zusammengeführt, das ist eine vorbildliche Leistung. – Und sie hat gute Bücher geschrieben, Kinder- und Schulbücher für die Unter-, Mittel- und Oberstufe, aber auch wichtige und aktuell gebliebene Bücher zur Geschichte, zur Pädagogik und zur Aufgabe Deutschlands zwischen den Machtblöcken in Ost und West.

Mich dünkt: Renate Riemeck hat es verdient, erinnert zu werden, deshalb diese Biografie. Wie erfreulich, dass sie Ihnen gefällt.

 

Mit herzlichem Gruß, Ihr Albert Vinzens.

Albert Vinzens, geb. 1959, wuchs im Schweizer Kanton Graubünden auf. In jungen Jahren war er Extremkletterer, studierte dann in Zürich, München und Basel Philosophie und Geschichte und promovierte über Friedrich Nietzsche. Heute lebt er als freier Autor in Kassel.

Veröffentlichungen u. a.: Essays und Bücher über extremes Leben, Denken und das Spiel sowie biografische Texte über Nietzsche, Beuys (2013), Goethe (2018). 2021 schrieb er das Libretto für die Kantate »Genug«, die der Komponist Jakob Gruchmann (*1991) vertonte. Zuletzt verfasste er, zusammen mit einem Schweizer Autorenteam, eine Bildbiografie über Rudolf Steiner.

* Titel des gleichnamigen Buches von Albert Vinzens: „Renate Riemeck. Historikerin, Pädagogin, Pazifistin (1920-2003)“, Wallstein Verlag , Göttingen 2023, 403 Seiten, 28,- EUR.