Cover des unzensierten und des zensierten Roten Kalenders nebeneinander
Der Rote Kalender 1972 erschien in zwei Ausführungen: Im Original, und, nach Hausdurchsuchungen beim Verlag und Ermittlungen wegen u.a. Sachbeschädigung, in einer "durchschnüffelten" Neuausgabe. / Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Wagenbach-Verlags

In Nachlässen, Vorlässen oder sonstigen Abgaben, die uns im Archiv erreichen, finden sich die unterschiedlichsten Materialien. So besitzen wir auch einen kleinen Stapel des Roten Kalenders für die Jahre 1972 bis 1986.

Der „Rote Kalender für Lehrlinge und Schüler“, wie er von 1972 bis 1976 hieß, wurde anfangs vom Wagenbachverlag in einer Auflage von 70.000 Exemplaren zum Preis von 2 DM als „Versuch einer Massenagitation“ [1] herausgegeben.

Er sollte in „einfacher Sprache politische und praktische Kenntnisse verbreiten – von Zahlen zur Ausbeutung über Bücherempfehlungen und Adressen von Anwälten oder Lehrlingsgruppen bis zu Ratschlägen zur Rauschgiftsucht und Anweisungen, wie man ein Flugblatt herstellt“ [1].

Außer dem Kalender für 1972 erschien bei Wagenbach im Jahr 1971 das Rotbuch „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“, das sog. RAF-Manifest. Das führte beim Verlag zu Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Gerichtsverfahren [3b + 3c]. Für das Rotbuch wurde Klaus Wagenbach die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, der Vorschlag auf S. 95 des Kalenders, Kriegerdenkmäler zu verändern, wurde als Sachbeschädigung gewertet. Klaus Wagenbach wurde zu insges. 9 Monaten auf Bewährung verurteilt. [2a]
Auch der Kalender von 1973 hatte gerichtliche Folgen für Klaus Wagenbach: Es gab eine Klage wg. Beleidigung, weil die Erschießung v. Georg v. Rauch und Thomas Weisbecker durch Polizisten auf  S. 95 ff. als „Ermordung“ bezeichnet wurde. [4]

1973 scheiterte das Wagenbach-Verlagskollektiv und es kam zur Spaltung des Verlages. Der Kalender ging zum Rotbuch-Verlag und hieß ab 1977 „Roter Kalender gegen den grauen Alltag“. Es gab ihn bis in die 2000er Jahre, dann teilw. mit Schwerpunktthema, z.B. 2002 „Fußball“ oder 2004 „Konsumterror“.

Den Roten Kalender 1972 haben wir in zwei unterschiedlichen Ausgaben vorliegen:

Die unzensierte, erste Ausgabe:

Innenansicht Roter Kalender: Auf der linken Seite ist der Text "Was man alles machen kann" abgebildet, der später zensiert wurde, da der Vorwurf erhoben wurde, er stachele zu kriminellem Handeln an
Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Wagenbach-Verlags

und eine 2., „durchschnüffelte Ausgabe“:

Ein Exemplar von 1972 gibt uns Einblick in den Alltag von „Jan“ aus Hamburg. Er war wohl Schüler (14.04.: Mathe-Arbeit, 24.4.: Chemie-Arbeit) und hat zwischen April und Juni diverse Termine und Aktivitäten eingetragen, die von einer intensiven politischen Betätigung Zeugnis ablegen: Schulzelle, Demos, ESG, Namibia-Teach-In…

(BS)

[1] Buchstäblich Wagenbach : 50 Jahre: Der unabhängige Verlag für wilde Leser. Verlag Klaus Wagenbach Berlin.

https://www.wagenbach.de/images/stories/50/50Jahre-Wagenbach.pdf , S. 41

[2] Klaus Wagenbach – Das Herz sitzt links (Portrait) https://www.youtube.com/watch?v=dk0rocCIlx4 (v. 27.06.2018)
1. ab Minute 36:00 – 37:00: Sachbeschädigung à 9 Monate
2. ab 28:47 – 30:00: Verlag gibt sich 1970 eine Verfassung unter dem Motto „wie wird man den Kapitalismus los?“ Gründung Verlagskollektiv

[3] Über Leben mit Büchern – Eine linke Verlagsgeschichte (Wagenbach-Verlag)
https://www.youtube.com/watch?v=7ZRXZdZXeAI
 (v. 30.04.2015)

1. ab Minute 16:47- 18:03: „Wie wird man den Kapitalismus los?“
2. ab Minute 24:50: Beschlagnahme Bücher und Kalender 1972
3. ab Minute 26:26 – 27:16: zum Roten Kalender 1972

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Verlag_Klaus_Wagenbach, Stand: 13.10.2020