Zweimal im Jahr, einmal im Winter und einmal im Sommer, begeben sich furchtlose Archivar*innen im HIS auf Expedition. Ausgerüstet mit Landkarten, Schutzkleidung und allerlei Fangvorrichtungen machen sie sich auf den Weg in die verborgenen Tiefen der Magazin- und Lagerräume, um die geheime Tierwelt des Hamburger Mittelwegs zu erkunden. Dabei müssen sie auf Alles vorbereitet sein, denn in der heimischen Fauna tummeln sich, gut getarnt unter harmloseren Arten, auch gefährliche Spezies. Im Dunkeln lauernd, können diese blitzschnell hervorschießen und alles verschlingen, was ihnen vor die gierigen Mäuler gerät…

Na gut. Das war jetzt etwas überdramatisch. Aber Begriffe wie „Expedition“, „Landkarte“ und „Fangvorrichtungen“ klingen doch irgendwie aufregender als ein nüchternes „wir führen alle sechs Monate in unseren Magazinräumen Schädlingsmonitoring durch, wobei wir Vinylhandschuhe tragen, Klebefallen aufstellen und die Fallenstandorte auf Raumplänen dokumentieren“. Das mit den im Dunkeln lauernden gefährlichen Spezies stimmt allerdings.

Doch von Vorne:

In Archiven und Bibliotheken lagert viel Papier, dazu, z.B. in Bucheinbänden oder Kartons verarbeitet, Pappe, Leder, Leinen, Baumwolle, Kleister und andere organische Materialien. Diese Stoffe sind stärke- oder zellulosehaltig, was sie, ebenso wie Staub oder Schimmelpilze, zur potentiellen Nahrungsquelle für zahlreiche Insektenarten beziehungsweise deren Larven macht [1].
Nun kommen Silberfischchen, Staubläuse, Schaben oder Käfer in fast jedem Gebäude, insbesondere in Altbauten, vor und stellen, solange sie vereinzelt auftreten, auch keine besondere Gefahr dar. Ein großflächiger Schädlingsbefall, zumal wenn länger unbemerkt, kann aber große (Fraß-)Schäden an Archivgut anrichten. Deswegen ist es wichtig zu beobachten, welche kriechenden und krabbelnden Bewohner in Magazin- und Lagerraumen unterwegs sind – und im Ernstfall frühzeitig Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung einzuleiten.

Diese „Lagebeobachtung“ geschieht mithilfe spezieller Monitoringfallen. Die kleinen Pappgehäuse werden in den ruhigen und dunklen Ecken, in denen sich Insekten bevorzugt aufhalten, aufgestellt. Dort locken sie mit speziellen Duftstoffen ihre Opfer auf eine klebrige Fläche, auf der die Krabbeltiere haften bleiben und bei der nächsten Kontrollrunde von den oben erwähnten behandschuht-furchtlosen Archivar*innen identifiziert werden können.

Zum Glück gab es für unsere Archivräume bisher keinen Anlass für echten „Schädlingsalarm“. In den Monitoringfallen fanden sich neben harmlosen Fliegen und Spinnen zwar immer wieder auch Silberfischchen und Käfer, jedoch in den eigentlichen Regalbereichen nicht in einem besorgniserregenden Ausmaß. Auf den ersten Blick dramatisch sehen die Fallen aus, die in der Nähe der Außenmauern und -türen im Souterrain aufgestellt waren, aber zum einen stellen die meisten der gefangenen „großen“ Tiere wie Spinnen, Asseln, Ohrwürmer und Tausendfüßer keine Gefahr für Archivalien dar [3], und zum anderen wird in der unmittelbarer Nähe der Fangorte kein Archivmaterial gelagert.

Was uns allerdings etwas Sorge bereitet, ist dieser Fund:

Papierfischchen in Klebefalle
Das Grauen auf sechs Beinen: wahrscheinlich ein Papierfischchen

Es handelt sich dabei vermutlich um ein Papierfischchen (lat. Ctenoleptisma longicaudata) – „vermutlich“ deshalb, weil diese Vertreter der Familie der Lepismatidae nur sehr schwierig von ihren weit verbreiteten Cousins, den Silberfischchen (lat. Lepisma saccharina) zu unterscheiden sind [2].

Papierfischchen, vermutlich aus Afrika oder Zentralamerika eingeschleppt, werden seit den späten 1990er Jahren in Mittel- und Nordeuropa nachgewiesen. In der Bundesrepublik wurde das Auftreten dieser Art erstmals 2007 belegt (ausgerechnet in Hamburg!), und nach zahlreichen weiteren Funden ist davon auszugehen, dass Papierfischchen inzwischen in ganz Deutschland vorkommen.

Was Papierfischchen im Vergleich zu den Silberfischchen für Archive so gefährlich macht, ist, dass sie sich ausschließlich von Papier und Kartonagen und anderen klassischen Archivmaterialien ernähren. Anders als Silberfischchen, die eine feuchte und warme Umgebung bevorzugen, fühlen sie sich in den üblicherweise in Archivmagazinen und Museumsdepots vorherrschenden trockeneren und kühleren Bedingungen besonders wohl, und sie haben dort kaum Fressfeinde.
Welche Schäden Papierfischchen anrichten können, und wie schwierig sie, haben sie sich einmal eingenistet, wieder loszuwerden sind, zeigt eindrücklich eine Dokumentation von „W wie Wissen“ in aus dem Jahre 2019 [4]. Dort wird ab Minute 0:13 und  Minute 5:16 auch deutlich, dass das mit den „gierigen Mäulern“, vielleicht doch keine gar so große Übertreibung war… Erstaunlich (oder erschreckend?) auch die mögliche Lebensdauer – aber schauen Sie selbst (zum ARD-Beitrag).

Nein, Papierfischchen möchte man wirklich nicht im Archiv haben. Hoffen wir, dass es bei uns bei dem einen – nur vermuteten Exemplar – in den Monitoring-Fallen bleibt. Auf jeden Fall behalten wir die Lage im Blick: die Fallen für die diesjährige Winterstichprobe sind bereits aufgestellt!

(SK)

[1] Der sprichwörtliche Bücherwurm mag Literatur intellektuell verdauen, ursprünglich wurde diese Bezeichnung aber für im wahrsten Sinne des Wortes buchfressende Würmer verwendet, nämlich für die Larven häufig im Wohn- und damit Leseumfeld vorkommender Käferarten.

[2] Ein ganzer Aufsatz zum Thema der Unterscheidung von Silber-, Papier- und anderen Fischchenarten findet sich hier: https://www.pestcontrolnews.com/the-grey-silverfish-paperfish-found-in-the-uk/, abgerufen 10.12.2020.
Kurz gesagt, Papierfischchen können größer werden und haben im Verhältnis zur Körpergröße in der Regel längere Antennen und Schwanzanhänge. Sicher lassen sie sich von Silberfischchen allerdings nur unter dem Mikroskop unterscheiden, und zwar durch die Wuchsrichtung ihrer Schuppen (beim Papierfischchen nach vorne gerichtet, beim Silberfischchen nach hinten gerichtet).

[3] Im Gegenteil, Ohrwürmer und einige Spinnenarten sind im Archiv eigentlich Nützlinge, da sie Silberfischchen und kleinere Insektenlarven fressen.

[4] https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/papierfischchen-100.html, abgerufen 10.12.2020.