Neulich las ich einen interessanten Artikel über das Spiel „Suffragetto“, das 1908 von der militanten britischen Women’s Social and Political Union zur Finanzierung ihres Kampfes für das Frauenwahlrecht in Großbritannien entwickelt wurde (taz v. 16.07.2025).
Dadurch angeregt habe ich bei uns im HIS-Archiv nach Spielen aus Protestbewegungen gesucht und bin u.a. in der Ökologiebewegung, bei der Frauen- und der ML-Bewegung fündig geworden. Manche Spiele sind Abwandlungen bereits bekannter Gesellschaftsspiele, sie üben Kritik an bestehenden Verhältnissen, wollen agitieren oder füllen bewährte Spielvorlagen einfach mit neuen Inhalten.
Sechs davon möchte ich hier vorstellen:
Provopoli - wem gehört die Stadt (seit 1972)
„Provopoli“ ist ein strategisches Gesellschaftsspiel für zwei Gruppen, die gegeneinander spielen. Es bezeichnet sich selbst als „Übungsspiel praktischer Staatsbürgerkunde“. „Anhand eines Straßenplans gilt es, „Grünstadt“ zu erobern, Gebäude zu besetzen und (vorgegebene) Aktionen durchzuführen, die die andere Gruppe verhindern muss.“
Es gibt Bezüge zu realen Ereignissen wie dem Besuch des Iranischen Schahs in Berlin 1972 und auf mitgelieferten leeren Ereigniskarten können eigene Ideen eingebracht werden. Ein Zitat aus der Anleitung:
„provopoli spielen, könnte bedeuten: Anfangen, ein Spiel zu verändern. Ein Spiel zu verändern könnte bedeuten: Anfangen, die Verhältnisse zu untersuchen. Die Verhältnisse zu untersuchen könnte bedeuten: Anfangen, die Widersprüche zu erkennen. Die Widersprüche zu erkennen, könnte bedeuten: Anfangen zu handeln. Wir meinen: Mit einem Spiel anfangen ist besser als nie anfangen.“
Provopoli stand von 1980 bis 2005 (25 Jahre!) auf der Liste der jugendgefährdenden Schriften, weil es lt. Prüfgremium geeignet sei, „Kinder und Jugendliche sozialethisch zu verwirren (desorientieren)“ und „sittlich zu gefährden“. Das Antragstellende Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung hatte geltend gemacht, die Spielanweisungen enthielten „staatsfeindliche und terroristische Inhalte. Es werde zu Geiselnahme, Bombenanwendung, Errichtung von Barrikaden, Einbrüche in Amtsräume […] angeregt. Weiterhin werde in diesem Spiel nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit demokratischen Gesellschaftsformen angeregt, sondern die Demokratie generell abgelehnt, und deshalb ein terroristischer Kampf um Gesellschaftsveränderung, der verfassungswidrig ist, propagiert.“
Zitiert nach: https://www.dhm.de/archiv/sammlungen/alltag3/spielzeug/ak99_779.html
Kommunist ärgere dich nicht (1973)
In ihrer Weihnachtsausgabe v. 24.12.1973 veröffentlichte die links-sozialistische Zeitschrift „Berliner Extradienst“ diesen Spielplan. Auf der Vorderseite ein „modernes, linkes Würfelspiel“ in Hammer & Sichel-Grafik, bei dem sich satirisch mit der ML-Bewegung und führenden Köpfen der Linken auseinandergesetzt wurde. Auf der Rückseite kann die Variante „Sozialdemokrat ärgere dich nicht“ gespielt werden. Spielfiguren und Würfel mussten selbst ergänzt werden.
Klassenkampf (1980)
Die deutsche Version von 1980, an der auch der Historiker Dr. Peter Brandt mitgewirkt hat, möchte lt. Spielanleitung „die wichtigsten Stationen der ereignisreichen Klassenkampfgeschichte Mitteleuropas während des 19. und 20. Jahrhunderts wiedergeben. Es geht darum, wer in der Auseinandersetzung der Klassen […] die Revolution gewinnt. Die Alternative heißt: „Diktatur des Kapitals oder Solidarische Gesellschaft“.
Auf 31 Seiten Spielanleitung und -Beschreibung werden die 84 Stationen bis zur Revolution erläutert und die möglichen Aktionen, Bündnisse, Taktiken und Strategien sowie Spielvarianten wie z.B. Klassenkampf in der Schule oder in der Familie erklärt.
Das Giftmüll-Spiel (1983)
Das „Giftmüll-Spiel“ vom Institut für ökologische Forschung und Bildung ist – ganz ökologisch – auf Pappe gedruckt und die Spielfiguren bestehen sämtlich aus Holz. In diesem „kooperativen Brettspiel“ geht es darum, zu verhindern, dass Giftmüll im Mittelmeer „entsorgt“ wird.
Hinter der Spielidee steckt ein reales Ereignis, die Giftmüllkatastrophe vom 10.07.1976 in Seveso (Italien), bei dem durch eine Explosion eine dioxinhaltige Giftwolke freigesetzt wurde, die sich über viele Hektar ausbreiten konnte. Die Inhaltsstoffe des freigesetzten Giftes wurden zunächst geheim gehalten. Als endlich 9 Tage später die Firma Hoffmann-La Roche bestätigte, dass es sich um Dioxin handelt, waren schon viele Menschen, Tiere und viel Land verseucht. Es kam zu einem „Massensterben örtlicher Kleintiere“, zum Absterben der lokalen Vegetation und zu zahlreich auftretenden Hautschäden durch Chlorakne (über 187 Fälle bis April 1977, davon 164 Kinder). Aber auch die daraufhin eingeleiteten Maßnahmen machen die Gefährlichkeit deutlich: Es kam zu Zwangsevakuierungen und für schwangere Frauen wurden (im katholischen Italien!) Abtreibungen legalisiert.
Konkret nimmt das Spiel Bezug auf einen Lastwagen mit 41 Fässern Giftmüll aus Seveso, der im September 1982 die Grenze nach Frankreich überquerte und kurz darauf verschwunden war. Wieder wurde diese Information zunächst geheim gehalten. Im März 1983 wurde das Verschwinden dann doch bekannt gegeben und eine hektische europaweite Suche nach den Giftfässern startete. Im Mai 1983 wurden die Fässer auf einem verlassenen französischen Schlachthofgelände wiedergefunden, wo sie von einem Speditionsunternehmen einfach abgestellt worden waren. Später wurde der Giftmüll in einem Spezialofen verbrannt.
Quellen:
Claas Kirchhelle, Erinnerungsort „Seveso ist überall“, URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/verschmutzte-natur/50-seveso-ist-ueberall
Uekötter, Frank u. Kirchhelle, Claas: Wie Seveso nach Deutschland kam. In: Archiv für Sozialgeschichte, 52.2012, S. 319-324
Wucherer (3. Aufl. 1994)
Es gibt hier keinen Spielplan, sondern mit den gezogenen Karten können Häuser gelegt werden, in die verschiedene Mieterinnen einziehen können. Dazu gibt es noch Makler, Hausbesetzer etc. Die Spielchips symbolisieren das Geld (die MW = Mieterw(a)ehrung).
Patria(r)ciao (2021)
Eine Neuanschaffung im Archiv ist „Patria(r)ciao“, ein Kartenspiel „zur Bekämpfung des Patriarchats“ aus dem Frauenbildungshaus Dresden.
„Das Spiel […] beruht auf einem Zeitzeuginnen*-Projekt des Frauenstadtarchivs Dresden, für das verschiedene Generationen von Frauen* zu ihren ganz alltäglichen und häufig unsichtbaren patriarchalen Erfahrungen und Gegenstrategien in der DDR, Wende- und Nachwendezeit befragt wurden. Während des Spiels begeben sich die Mitspielenden in die Rolle der Zeitzeuginnen* und bekommen mittels der präsentierten Zitate und den dazu erdachten Aktionen nicht nur ein Gespür für die Wirkungsmacht und Funktionsweise des Patriarchats, sondern bekämpfen den sexistischen Normalzustand. Der performative Charakter des Spiels ermöglicht es den Mitspielenden zudem, einer geschlechtergerechten Gesellschaft auch in der Realität ein Stück weit näher zu kommen.“
Quelle:
https://frauenstadtarchiv.de/patriarciao-das-spiel/
Wer mehr über unsere Spielesammlung erfahren möchte, ist herzlich eingeladen, einen Besuchstermin zu vereinbaren. Informationen zu Beständen im Archiv, den Nutzungsmöglichkeiten sowie den Leseraum-Öffnungszeiten finden Sie auf unserer Webseite.
(03.09.2025, bs)