von Christoph Bachmann

Archivare haben manchmal ein recht eigentümliches Verhältnis zur Zeit und zur Vergangenheit, denn durch die tägliche Beschäftigung mit Schriftgut, das aus allen Epochen von der frühen Neuzeit bis in die jüngste Gegenwart stammen kann, verschwimmen manchmal die zeitlichen Dimensionen.

Diese eigenartige Konstellation fand ihre blitzartige Unterbrechung bei meinen Erschließungstätigkeiten zu den Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I, die aufgrund der Randalen bei Fußballspielen des Vereins 1860 München im Stadion an der Grünwalderstraße, dem so genannten „60er-Stadion“, eingeleitet wurden. Da ich fast gegenüber dem Stadion aufgewachsen bin, konnte ich mich an diese Krawalle der Fans, heute würde man sie unter Hooligans subsummieren, noch gut erinnern, was mir aber im Umkehrschluss klar machte, dass auch über Archivare die Zeit gnadenlos hinweggeht.
Dies nahm ich zum Anlass, um in unseren Beständen hier am Staatsarchiv München nach weiteren derartigen Ereignissen zu suchen, um dem Thema „Sport und Gewalt“ etwas näher zu kommen.

Im Staatsarchiv München dokumentiert: Protest von Friedensbewegung bis Militanz…

Tatsächlich lassen sich in den Unterlagen des Polizeipräsidiums München und der Staatsanwaltschaft München I immer wieder derartige Unterlagen finden, die Gewaltforschern und Sozialhistorikerinnen ebenso als Quellengrundlage dienen können wie sozialgeographischen Untersuchungen zur Zivilgesellschaft.
Drehen wir die Zeit für die an politischer Gewalt, Protest und sozialen Bewegungen interessierten Forscher*innen etwas zurück, gelangen wir schnell zu einem der frühesten dokumentierten Protestereignisse in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg, der Rißbachüberführung. Dabei handelte es sich um ein gigantisches Wasserkraftprojekt, mit dem man in den 1940er Jahren die bayerische Energiekrise überwinden wollte, was die betroffenen Anwohner*innen allerdings für nicht so erstrebenswert hielten.

Die Dokumentation von Protestereignissen im Staatsarchiv München setzt sich fort mit den bekannten Schwabinger Krawallen von 1962 und den Studentenunruhen 1968. Dies alles sind ziemlich bekannte Phänomene. Doch danach werden zahlreiche Ereignisse sowohl schriftlich, als auch filmisch dokumentiert, die ebenfalls eine nicht unerhebliche gesellschaftspolitische Relevanz haben: die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, der Protest gegen den Flughafen München-Erding und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, die sogenannten Anti-Hubertage (1969), der Widerstand gegen die Notstandsgesetzgebung, die Aktion Südfront[1], die Gruppe Freizeit 81[2], oder der berüchtigte Münchner Kessel während des G7-Gipfels 1992.[3]
Darüber hinaus finden sich zahlreiche Akten zu Demonstrationen der KPD/ML, umfangreiche Unterlagen zur RAF und anderen militanten Gruppen wie den Tupamaros, zu Demonstrationen und Plakataktionen aller Art, aber auch zu Sport- und Musikveranstaltungen sowie zum Christopher-Street-Day.

… aus der Sicht staatlicher Stellen

Was aber lässt sich in diesen Unterlagen alles finden? Die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden ermitteln, um Straftatbestände festzustellen und zu beweisen, um dann die Ermittlungsunterlagen an die Staatsanwaltschaften weiterzugeben, die den juristischen Teil bis zur Anklageerhebung erarbeiten. Um eine Anklage vor Gericht zu bringen und auch eine Verurteilung wahrscheinlich zu machen, muss diese auch beweissicher sein. Aus diesem Grund enthalten die Akten zahlreiche Bestandteile, die unter Berücksichtigung der Quellenkritik für einzelne Ereignisse ausgewertet werden können. Archivalientypologisch gesehen handelt es sich dabei um höchst unterschiedliche Aktenbestandteile wie Zeug*innenvernehmungen, Einsatzberichte der eingesetzten Einheiten, Ablaufkalender, Strafanzeigen, Lichtbildmappen, Ermittlungsberichte, Einsatzbefehle, Spurenblätter, Berichte des Erkennungs- und Spurendienstes sowie Tatortbefundberichte. Sogar Berichte des Verfassungsschutzes lassen sich gelegentlich in den Unterlagen zu politisch motivierten Ereignissen finden. Gar nicht selten enthalten die Akten auch originäres Dokumentationsmaterial wie Flugblätter, Plakate oder Zeitschriften.

 

Bei der Nutzung personenbezogerner Unterlagen zu beachten: Schutzfristen

Doch so verlockend diese Unterlagen für alle an einer wissenschaftlich ausgewogenen Darstellung Interessierten auch sein mögen, so problematisch kann manchmal deren Benutzung sein. In der Regel unterliegen diese Akten noch den entsprechenden datenschutzrechtlichen Einsichtshemmnissen. So werden personenbezogene Unterlagen, z.B. Zeug*innenvernehmungen, Strafanzeigen und ähnliches, mit einer Schutzfrist von 10 Jahren nach dem Tod des Betroffenen, ersatzweise einer Frist von 90 Jahren nach dessen Geburt belegt. Ist diese Frist noch nicht verstrichen, muss zunächst eine Schutzfristverkürzung eingeleitet werden, die grundsätzlich ergebnisoffen ist und, da in Bayern auch die aktenführenden Stellen einwilligen müssen, sich etwas hinziehen kann.
Dieser Schutz zur informationellen Selbstbestimmung ist wichtig, denn kaum jemand möchte, dass sich jeder an seinen persönlichsten Daten frei bedienen kann. Die Zustimmung zur Verkürzung der Schutzfristen und Einsichtnahme ist stets mit Auflagen verbunden, Namen der am Verfahren Beteiligten vollständig zu anonymisieren. Doch es lohnt sich, diesen Aufwand zu betreiben, denn die inhaltliche Dichte der Unterlagen ist beträchtlich, können doch nur die staatlichen Stellen umfangreiche Ermittlungen aller Art anstellen. Einzelpersonen bleibt das mangels Kompetenz und Arbeitskapazität in der Regel verwehrt.

Wie kommen die Unterlagen ins Staatsarchiv?

Die Kenntnis von der inhaltlichen Dichte der Unterlagen, die kontinuierliche Nachfrage seitens der historischen bzw. der Sozialforschung und auch der Auftrag zur Dokumentation eines behördlichen Aufgabenspektrums veranlasst uns Archivar*innen, kontinuierlich mit den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in Kontakt und vor allem im Gespräch zu bleiben, um diese Überlieferung zu sichern. Dabei ist die gesetzlich geregelte Anbiete- und Abgabepflicht der Behörden an die staatlichen Archive nur die eine Seite der Medaille. Diesen Prozess auch so zu steuern, dass genau die Unterlagen ins Archiv kommen, die für spätere Aufarbeitungen relevant sind, ist die andere Seite. Dafür ist eine Sensibilisierung der Mitarbeiter bei den aktenführenden Stellen erforderlich. Sie müssen ein Auge auf die archivwürdigen Unterlagen haben und ermutigt werden, den Archiven lieber zu viel als zu wenig anzubieten. Vernichtet sind Unterlagen schnell, aber es sollten halt nicht die falschen sein.
Durch eine entsprechende Kontaktpflege zu den aktenführenden Stellen konnte das Staatsarchiv München eine höchst umfangreiche und gute Überlieferung der Polizeibehörden in der Stadt München aufbauen: Aktuell umfasst der Bestand weit über 30.000 Archivalieneinheiten, die Unterlagen der Polizeiinspektionen und der Polizeipräsidien Oberbayern, Oberbayern-Süd und Oberbayern-Nord nicht mit eingerechnet. Zeitlich setzt der Bestand zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein und endet derzeit mit fast aktuellem Schriftgut aus dem Jahr 2017.

Dr. Christoph Bachmann ist leitender Archivdirektor am Staatsarchiv München.

[1] Es handelte sich um eine militante Splittergruppe, die sich 1969 gründete als sich Teile der Studentenbewegung radikalisierten und den bewaffneten Kampf aufnahmen. Die Münchner Kriminalpolizei brachte ein Mitglied der Aktion Südfront in Verbindung mit dem Sprengstoffanschlag auf die Israelitische Kultusgemeinde in der Münchner Reichenbachstraße 1970.

[2] Die Gruppe Freizeit 81 war eine linksradikale Aktionsgruppe aus dem Spektrum der Hausbesetzer*innen- und Punkszene.

[3] Damals hielten über 1000 Polizisten in der Münchner Innenstadt die Protestierenden über Stunden in einem Kessel fest.